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Ernährungssicherheit

Wer ist für die Getreidekrise verantwortlich?

Wulf Wilde
28. Juli 2022

Der Ukraine-Krieg verschärft die weltweite Hungerkrise. Der Westen und Russland geben sich gegenseitig die Schuld für die seit Kriegsbeginn extrem gestiegenen Getreidepreise. Was ist dran an den Behauptungen?

Ukrainisches Getreide soll wieder auf den Weltmarkt kommen
Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs explodierte der Weltmarktpreis für GetreideBild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

345 Millionen Menschen sind laut Angaben des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) aktuell existentiell von Hunger bedroht - die seit Februar explodierten Getreidepreise dürften die Zahlen weiter steigen lassen. Schuld an der Getreidekrise ist nach Ansicht westlicher Staaten vor allem die Kriegsstrategie des Kremls. Der wiederum macht insbesondere die westlichen Sanktionen für die Entwicklung verantwortlich. Darüber hinaus gibt es die Meinung, dass ausbleibende Getreidelieferungen aus der Ukraine leicht kompensiert werden könnten. Ein kritischer Blick auf die Argumente.

Behauptung: Russland ist für die weltweite Hungerkrise verantwortlich

"Die Gefahr einer weltweiten Hungerkrise liegt in Russlands Verantwortung, ist verschuldet durch Putins Krieg", twittere Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Juni. Ähnlich äußerten sich auch andere westliche Politiker. Es gebe keinen anderen Grund für die steigenden Lebensmittelpreise weltweit als Russlands Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen sowie Beschränkungen eigener Weizenexporte durch Moskau, sagte etwa US-Außenminister Antony Blinken.

Die Ukraine ist weltweit der drittgrößte Exporteur von Mais und der siebtgrößte von Weizen, dementsprechend reagierten die globalen Märkte bereits zu Kriegsbeginn auf befürchtete Lieferausfälle: Der Preis für Mais stieg von Mitte Februar bis Anfang März um knapp 20 Prozent, der für Weizen sogar um 60. Inzwischen sind die Preise wieder gefallen, doch der für Weizen liegt noch immer knapp 60 Prozent über dem Vorjahresniveau. Die sich verschärfende Hungerkrise wurde jedoch nicht erst durch diese Preisexplosion verursacht, wie Martin Frick, Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein, im Gespräch mit der Deutschen Welle betonte.

Die Zahl der akut existentiell von Hunger bedrohten Menschen sei in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen - von 150 Millionen im Jahr 2019 auf 276 Millionen bis Ende Dezember 2021 und nun bereits 345 Millionen. "Das ist die Konsequenz von drei Cs, wie wir immer sagen: conflict, climate, covid. Dazu ist ein viertes C gekommen, nämlich costs", so Frick. "Der Ukraine-Krieg hat die Getreidekosten noch weiter in die Höhe getrieben, sie waren aber auch schon hoch, bevor am 24. Februar geschossen worden ist."

Ernährungskrise - werden wir morgen noch alle satt?

05:43

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Die Hungerkrise sei vor allem eine Verteilungs- und Preiskrise. Eine Einschätzung, die auch der Präsident der UN-Generalversammlung, Abdulla Shahid, teilt: "Es fehlt uns nicht an Nahrung; tatsächlich haben wir genug, um den Planeten zu ernähren. Aber wir haben Defizite bei ihrer Verteilung, bei der Verfügbarkeit und der Kaufkraft", sagte Shahid bei einer Rede am 26. Mai.

Fazit: Die Hungerkrise hat verschiedene Ursachen - anhaltende Kriege, Klimawandel und die Corona-Pandemie. Der Krieg in der Ukraine hat die Situation weiter verschärft.

Behauptung: Ausbleibende Getreidelieferungen aus der Ukraine lassen sich kompensieren

"Es gibt genügend Nahrungsmittel in der Welt und niemand ist gezwungen, sich Putin auszuliefern", zitiert BR24 (br.de) den Militärökonomen Marcus Keupp von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Seiner Ansicht nach ließen sich ausbleibende Getreidelieferungen aus der Ukraine kompensieren. Getreide umfasst dabei neben Weizen die Samen anderer Süßgräser wie Dinkel, Roggen, Gerste, Hafer sowie Mais. Als Beleg für seine These verweist Keupp dabei unter anderem auf die globalen Nahrungsmittelvorräte und den Anteil ukrainischer Getreideexporte am Weltmarkt.

Keupp beziffert diesen auf 40 Millionen Tonnen, was bei einem Welthandelsvolumen von 479 Millionen Tonnen rund 8,4 Prozent ausmacht. Die weltweiten Getreidevorräte gibt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in ihrem jüngsten Marktbericht von Anfang Juli mit rund 859 Millionen Tonnen an - das ist 1,8 Mal so viel wie das weltweite jährliche Handelsvolumen. Zahlen, die suggerieren: Ein Ausfall der ukrainische Exporte sollte kompensierbar sein.

Nicht berücksichtigt dabei ist jedoch: "Der größte Getreidelagerer der Welt ist China, das aber am Welthandel praktisch nur als Käufer teilnimmt", sagte Frick vom WFP im DW-Gespräch. Nicht gelten lässt Frick auch das Argument, dass Länder, die bislang fast ausschließlich Weizen aus der Ukraine und Russland importiert haben, einfach zu anderen Anbietern wechseln könnten. 

"Die theoretische Möglichkeit zu surrogieren spricht nicht für die praktische, sich das auch leisten zu können", sagte Frick unter Verweis auf die immens gestiegenen Weltmarktpreise. Diese verteuern den Einkauf sowohl für Staaten als auch für die Verbraucher.

Hohe Transportkosten für Nahrungsmittel aufgrund der zusätzlichen Energiekrise führen zu weiteren Verteuerungen. Damit wird auch relevant, woher das Getreide stammt. Entscheidend für die Bedeutung der Ukraine als Getreideexporteur ist mithin nicht nur deren Anteil am weltweiten Handelsvolumen, sondern auch die geografische Lage. Aus der erklärt sich die Bedeutung der Ukraine als Getreidelieferant gerade für Länder im Mittleren Osten, Nordafrika und auch Subsahara-Afrika.

Martin Frick, Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und LiechtensteinBild: DW

Und noch ein wichtiger Aspekt geht bei einem Blick auf die nackten FAO-Zahlen unter: Russland ist inzwischen der weltweit größte Weizenexporteur mit einem Marktanteil von fast 20 Prozent. "Das spielt natürlich auch eine Rolle, weil Russland seinen Export nach Gutdünken steuern kann", so Frick.

Fazit: Die Ausfälle ukrainischer Getreideexporte sind für die betroffenen Ländern nicht so einfach auszugleichen, wie es Produktions-, Handels- und Lagerzahlen suggerieren. Zumal hohe Transportkosten für Lieferungen aus weiter entfernten Ländern die ohnehin gestiegenen Kosten beim Einkauf weiter verteuern.

Behauptung: Russland kann aufgrund westlicher Sanktionen kein Getreide liefern

Die russische Regierung hat wiederholt erklärt, sie sei bereit, einen Beitrag für die Überwindung der Lebensmittelkrise zu leisten - unter der Bedingung, dass der Westen die Sanktionen gegen Russland aufhebe. Die Sanktionen beeinträchtigten Schiffsversicherungen, Zahlungen, den Zugang russischer Schiffe zu ausländischen Häfen und ausländischer Schiffe zu russischen Häfen.

Tatsächlich sind "landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel, einschließlich Weizen und Düngemittel" von Exportsanktionen ausgenommen. Das hat die EU in einem Beschluss vom 21. Juli - im Vorfeld der Getreide-Vereinbarung von Istanbul - noch einmal explizit bekräftigt. Konkret ist festgehalten, dass für den Kauf, die Einfuhr und den Transport erforderliche Transaktionen gestattet sind. Zudem gilt, dass russische Handelsschiffe, die landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel transportieren, weiter Häfen in der EU nutzen dürfen.

"Dennoch ist Russland in Afrika unterwegs und tut alles, um das eigene Argument zu unterstützen, dass die westlichen Sanktionen für die Nahrungsmittelunsicherheit verantwortlich sind", kritisierte WFP-Direktor Frick. "Der Eindruck drängt sich auf, dass da auch ein geopolitisches Spiel gespielt wird mit den Getreidepreisen." Tatsächlich reiste der russische Außenminister Sergej Lawrow in dieser Woche in mehrere afrikanische Länder, bei den Gesprächen ging es auch um die Lieferung von russischem Getreide. Ob der vom Kreml im März verhängte Exportstopp für Weizen weiterhin in Kraft ist, ließ sich bei den Recherchen nicht klären, ebensowenig, ob in den vergangenen Monaten tatsächlich kein Getreide ausgeführt wurde.

Fazit: Die Sanktionen gegen Russland richten sich ausdrücklich nicht gegen landwirtschaftliche Produkte, das hat die EU in der vergangenen Woche noch einmal explizit klargestellt. Ob die Sanktionen in der Praxis trotzdem Auswirkungen auf die Zahlungsabwicklung und Versicherungsprämien hat, ließ sich nicht klären.

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