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Moskau auf der Suche nach neuen Energiekunden

Arthur Sullivan
10. April 2022

Europa will nicht länger der größte Energiekunde Russlands sein. Moskau muss also neue Absatzmärkte finden, wenn es eine Großmacht im Sektor Öl und Gas bleiben will. Doch die Optionen sind begrenzt.

Russland, Prigorodnoye | LNG Tanker
Wohin werden Russlands Tanker in Zukunft ihr Flüssiggas transportieren?Bild: Sergei Krasnoukhov/TASS/imago images

Niemand exportiert so viel Erdgas wie Russland, auch beim Erdöl ist das Land ein sehr wichtiger Exporteur. Im Jahr 2021 stammten laut Zahlen der Internationalen Energieagentur 45 Prozent des russischen Staatshaushalts aus Einnahmen aus Erdöl und Erdgas.

Einer der besten Öl- und Gaskunden Russlands ist seit langem die Europäische Union. Für das im Oktober 2021 endende Haushaltsjahr stellte das amerikanische Amt für Energiestatistik EIA fest, dass 49 Prozent der Rohöl- und Kondensatexporte an europäische OECD-Länder gingen. Europas Rolle als primärer Absatzmarkt für Erdgas ist dabei noch erheblich größer. Fast drei Viertel der russischen Erdgasexporte gingen 2021 laut EIA an europäische Länder.

Die Empörung über den russischen Einmarsch in die Ukraine und die sich häufenden Beweise für durch russische Streitkräfte verübte Kriegsverbrechen haben die EU jedoch veranlasst, ihre Bemühungen, sich von russischen fossilen Brennstoffen unabhängiger zu machen, zu verstärken. Wie schnell und in welchem Ausmaß dies europäischen Ländern wie Deutschland und Italien insbesondere bei den Erdgasimporten gelingen kann, wird jedoch heftig diskutiert.

Doch sollte der Plan der Europäischen Kommission aufgehen, die Union bis "deutlich vor 2030" von russischen fossilen Brennstoffen unabhängig zu machen, benötigt Russland dringend neue Kunden.

Auftritt des Drachen?

Wer könnte das sein? Vermutlich wird sich Russland darauf konzentrieren, seine Exporte an bestehende Kunden, die keine Sanktionen verhängt haben, zu steigern - zum Beispiel an China. Das Land ist schon jetzt Russlands größter Abnehmer von Erdöl außerhalb Europas. Der größte Teil der 38 Prozent der russischen Erdölexporte, die 2021 in Länder der Region Asien und Ozeanien verkauft wurden, entfällt auf China.

Russland und China: Partnerschaft "ohne Grenzen" auch auf dem Energiesektor?Bild: Alexei Druzhinin/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/dpa/picture alliance

Gegenwärtig ist Russland hinter Saudi-Arabien der zweitgrößte Lieferant von Erdöl an China. Experten sind jedoch überzeugt, dass der Kreml in den kommenden Jahren gezielte Anstrengungen unternehmen wird, seine Rivalen aus Nahost zu überrunden und zum größten Erdöllieferanten Chinas zu werden.

"Die interessanteste Dynamik, die wir dieses Jahr aus Sicht der Energiemärkte beobachten werden, wird Russlands Versuch sein, langjährige Handelsbeziehungen zwischen Nahost und Ostasien zu ersetzen", sagt Fernando Ferreira, Analyst für geopolitische Risiken bei der Energieberatungsfirma Rapidan, im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Ein weiteres wichtiges Ziel für Moskau wird sein, die an Indien gelieferten Mengen deutlich zu steigern. Das Land mit seinen 1,38 Milliarden Einwohnern ist der weltweit drittgrößte Verbraucher von Erdöl und muss den überwiegenden Teil seines Bedarfs importieren.

Seine größten Lieferanten sind Irak, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Erdöl aus Russland machte 2021 nur 2 Prozent der Gesamtimporte aus. Doch es gibt bereits Anzeichen, dass sich das ändert. Indien hat das Vorgehen Russlands in der Ukraine nicht verurteilt und im März und April stiegen Ölimporte aus Russland drastisch an. Jetzt, da russisches Rohöl von vielen westlichen Ländern gemieden wird, sind indische Raffinerien nur zu gerne bereit, es zu stark reduzierten Preisen zu kaufen.

Margarita Balmaceda vom Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University wies im Gespräch mit der Deutschen Welle darauf hin, dass zwei große indische Ölraffinerien kürzlich eine große Lieferung russischen Sokol-Rohöls von der Insel Sachalin aufkauften, die zuvor von mehreren anderen Ländern und Unternehmen abgelehnt worden war. Es bestehen jedoch Zweifel, ob Länder wie China und Indien die Nachfrage aus Europa vollständig ersetzen können.

Indien ist der weltweit drittgrößte ErdölkonsumentBild: Indranil Aditya/NurPhoto/picture alliance

Es dauerte Jahrzehnte, den Erdölhandel zwischen den Ländern des Nahen Ostens und Ländern wie China und Indien aufzubauen, unterstreicht Ferreira. "Ich glaube, beide Seiten haben kein Interesse, die Türen für Erdöl aus Nahost völlig zugunsten russischer Barrel zu schließen."

Er sieht ein weiteres Problem für Russland. Westliche Sanktionen wirken sich auf die Fähigkeit des Landes aus, die für die Ölgewinnung erforderliche Ausrüstung und Technik zu erwerben: "Russland wird es schwer fallen, die Fördermengen ohne Zugang zu westlicher Technik aufrechtzuerhalten."

Ausgebrannt?

Neue Märkte für Erdöl sind die eine Sache. Viel schwerer wird es für Russland sein, neue Absatzmärkte für sein Erdgas zu finden. Erdöl lässt sich relativ einfach zu neuen Abnehmern transportieren. Erdgas dagegen ist meist an Pipelines gebunden und die sind nicht flexibel. In der Produktion von Flüssiggas hinkt Russland seinen Rivalen weit hinterher.

Russlands Macht über Pipelines und Gasspeicher

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Als Ersatz für seine europäischen Märkte scheint Russland insbesondere China ins Visier zu nehmen. Im Februar kündigten Beijing und Moskau den Abschluss eines Vertrags mit 30 Jahren Laufzeit an. Über eine neue Pipeline soll Russland China mit Erdgas beliefern. Außerdem wurde vereinbart, diese Verkäufe in Euro abzuwickeln.

Auch mit Pakistan knüpft Russland enge Verbindungen mit Blick auf Erdgaslieferungen. Russland hat sich verpflichtet, Pakistan Stream zu bauen, eine Pipeline für zwei Milliarden US-Dollar bzw. 1,8 Milliarden Euro, über die Flüssiggas von der südlichen Hafenstadt Karachi in den Norden des südasiatischen Landes transportiert werden soll. Pakistan hat wie sein Nachbar Indien den Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht verurteilt.

Russlands Äußerungen über die Verlagerung von Gaslieferungen von West nach Ost gehen jedoch über das hinaus, was realistisch umsetzbar ist, ist Balmaceda überzeugt: "Solche Projekte benötigen enorme Finanzmittel und wenn die Finanzmittel fehlen, passiert nichts."

Die mittlerweile fertiggestellte Pipeline "Kraft Sibiriens" transportiert Erdgas nach ChinaBild: Alexandr Semenov/Gazprom

Theoretisch könnte Russland neue Infrastruktur schaffen, um China und auch Indien in Zukunft mit Erdgas zu versorgen, sagt Balmaceda. Dafür wären jedoch enorme Investitionen notwendig und die scheinen angesichts der wirtschaftlichen Lage Russlands unrealistisch. Ferreira sieht Russlands einzige realistische Möglichkeit für die Lieferung von Gas nach Asien über bestehende oder neue Pipelines zwischen China und Westsibirien: "Das wird eine Weile dauern. Eine kurzfristige Lösung für russisches Gas gibt es also nicht. Es wird im Land bleiben müssen."

Machtverlust Russlands möglich

Langfristig gesehen wird Russland kein wichtiger Akteur auf den globalen Energiemärkten bleiben, ist Ferreira überzeugt: "Sie werden einfach nicht mehr die Energiemacht sein, die sie heute sind. Nicht, weil sie nicht über die Ressourcen verfügen, sondern weil ihnen die Absatzmärkte fehlen oder die Technik, um die Brennstoffe aus der Erde zu holen."

Balmaceda, die sich in ihrem kürzlich veröffentlichen Buch "Russian Energy Chains: The Remaking of Technopolitics from Siberia to Ukraine to the European Union" mit dem Thema russische Energie befasst, hat Zweifel. Sie glaubt, dass russische Energie auf europäischen Märkten sogar wieder akzeptabel werden könnte, wenn es Interessensgruppen, seien es Kohleproduzenten, Erzeuger erneuerbarer Energien, Flüssiggasproduzenten oder andere, nicht gelingt, eine ausreichend starke Koalition gegen russische Energie zu bilden und die Politik davon zu überzeugen, russische Energie langfristig zu meiden.

Sie nennt das Beispiel der "versunkenen Kosten", investierter Gelder, die nicht zurückgewonnen werden können. Einige Unternehmen mögen die bestehenden Pipelines aus Russland als wirtschaftliche Begründung heranziehen, um weiter russisches Gas zu beziehen. Um Regierungen und Unternehmen davon zu überzeugen, an alternativen Energieoptionen festzuhalten, muss massiv in diese investiert werden, betont sie.

Einige europäische Regierungschefs halten an russischem Gas festBild: ALEXANDER ZEMLIANICHENKO/AFP/Getty Images

"Damit diese Konstellation von Interessengruppen der Versuchung von russischem Gas widerstehen kann, müssen die Alternativen so in der Infrastruktur verankert sein, dass die verschiedenen Wirtschaftsakteure den Anreiz dieser Investitionen haben, um so lange wie möglich dabei zu bleiben." Sie warnt jedoch, dass einige mittel- und osteuropäische Länder wie Ungarn und Serbien auch in Zukunft bereit sein werden, russisches Gas zu kaufen.

Ungarn unterzeichnete im vergangenen Jahr ein Abkommen mit Russland für den Bezug russischen Erdgases unter Umgehung der Ukraine - zum Beispiel über TurkStream, eine Gaspipeline, die Russland über das Schwarze Meer mit der Türkei verbindet. Am 6. April versicherte der ungarische Premierminister Viktor Orban, Ungarn sei bereit, der Forderung Wladimir Putins nachzukommen, Gas in Rubel zu bezahlen, wenn im Mai eine Zahlungsverpflichtung gegenüber Gazprom ansteht.

"Diese Länder sind recht klein, dennoch ist es sehr beunruhigend, dass das passiert", betont Balmaceda.

Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.

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