Wer kontrolliert den südlichen Zugang zum Gazastreifen?
30. Januar 2024Diaa Raschwan ließ keinen Zweifel: Jeder Versuch Israels, die Sicherheitskontrolle über das Gebiet zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wiederzuerlangen, werde die Beziehungen beider Länder ernsthaft belasten. "Jeder israelische Schritt in diese Richtung wird zu einer ernsthaften Bedrohung der ägyptisch-israelischen Beziehungen führen", sagte der Leiter des direkt dem Präsidenten unterstehenden Staatsinformationsdienstes vor wenigen Tagen in einer Online-Erklärung über den sogenannten Philadelphi-Korridor.
Die Grenze Ägyptens zum Gazastreifen sei sicher, erklärte er. Behauptungen Israels, aus Ägypten würden Waren in den Gazastreifen geschmuggelt, seien "Lügen". Die israelische Regierung wolle damit lediglich von ihren "wiederholten Misserfolgen" im Krieg gegen die Hamas ablenken, erklärte er.
Die Vorgeschichte: Anfang Januar hatte das Wall Street Journal berichtet, Israel habe Ägypten über Pläne für eine Militäroperation zur Wiedererlangung der Kontrolle über den Philadelphi-Korridor informiert.
Der Korridor müsse "in unseren Händen liegen", hatte der israelische Premier Benjamin Netanjahu bereits am 30. Dezember erklärt. Nur so lasse sich Schmuggel und die Entmilitarisierung des Gazastreifens sichern. Knapp zwei Wochen später wiederholte er die Forderung: Die israelische Kontrolle des Streifens sei "eine Möglichkeit für das, was ich als südliche Barriere bezeichne", erklärte er am 13. Januar.
Herausforderung Waffenschmuggel
Der Philadelphi-Korridor ist ein 14 Kilometer langes, entlang der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen verlaufendes Landstück. Dessen politische Vorgeschichte geht auf das Jahr 1979 zurück. Damals schlossen Israel und Ägypten einen Friedensvertrag, der auch die gemeinsame Grenze regelte. Der gemeinsamer Grenzübergang liegt seitdem in der Stadt Rafah.
Insbesondere seit dem Überfall der von EU, USA und weiteren Staaten als Terrorgruppe eingestuften Hamas am 7. Oktober steht die Frage im Raum, wie die erheblichen Mengen an Waffen ins Land kommen, mit denen die Hamas Israel seit inzwischen drei Monaten trotz massiver israelischer Militäroperationen weiterhin attackiert. Nicht auszuschließen ist, dass sie über die ägyptische Grenze, insbesondere durch Tunnel, in den Gazastreifen gelangten - so wird es vor allem in Israel vermutet.
Leicht bewaffnete Grenzwächter
Aus dem Gazastreifen hatte sich Israel - und mit ihm das israelische Militär - im Jahr 2005 komplett zurückgezogen. Noch im selben Jahr vereinbarten beide Länder in dem so genannten Philadelphi-Abkommen, dass Ägypten den Grenzkorridor zwischen seinem Territorium und dem Gazastreifen durch eine Gruppe von 750 Grenzwächtern kontrollieren werde.
Dem Abkommen gemäß übernahmen die Ägypter in dem Landstreifen keine rein militärischen Funktionen. Entsprechend ist ihre Bewaffnung, etwa eine begrenzte Anzahl von Sturmgewehren und leichten Maschinengewehren. Hinzu kommen einige Bodenradargeräte, eine überschaubare Flotte von Polizei-, Logistik- und Hilfsfahrzeugen sowie leichtere Helikopter.
Schwere gepanzerte Fahrzeuge waren und sind per Vertrag verboten. Mit dieser Regelung wollte Israel seinerzeit vor allem sicherstellen, dass vom Sinai keine militärische Gefahr mehr für sein Territorium ausgeht. Tatsächlich hat Ägypten immer wieder Schmuggeltunnel im Grenzstreifen zerstört. Angesichts der seitens Hamas weiterhin genutzten Waffenmengen wird nun aber nicht nur in Israel gefragt, ob Ägypten den Schmuggel tatsächlich völlig unterbinden konnte.
Manches spricht zwar dafür, dass die Sicherheits-Zusammenarbeit beider Staaten funktioniert. So erklärte der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, Michael McCaul, im vergangenen Oktober, Ägypten habe Israel drei Tage vor der Hamas-Attacke vor möglicher Gewalt gewarnt. Netanjahu hatte diese Behauptung allerdings als "absolut falsch" zurückgewiesen. Der Gazakrieg belastet das Verhältnis beider Länder zudem stark, da es in der Bevölkerung viele Sympathien mit den Opfern im Gazastreifen gibt und Kairo zugleich einen Massen-Exodus von Palästinensern auf das eigene Territorium befürchtet.
Ägyptische Bedenken
Der heftige Ton aus dem Umfeld der Kairoer Regierung über die Pläne für eine israelisch kontrollierte Sicherheitszone im Philadelphi-Korridor erkläre sich zunächst aus allgemeinen Bedenken, sagt die Nahost- und Ägypten-Expertin Sonja Hegasy vom Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient. "Ägypten sähe es mit Sorge, wenn einzig israelische Sicherheitskräfte den Korridor kontrollieren würden." Damit nämlich, so Hegasy im Gespräch mit der DW, stünde implizit der Vorwurf im Raum, Ägypten habe es nicht vermocht, den Schmuggel zu unterbinden. Gäbe das Land dem israelischen Ansinnen also nach, käme das, so die Sorge, einem Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit gleich. "Zudem sähe das Land auch seine Sicherheitsinteressen beeinträchtigt, sollte es in der Pufferzone selbst nicht mehr präsent sein."
Israelisch-ägyptische Sicherheitszusammenarbeit hat es in der Grenzregion freilich schon früher gegeben - auch wenn dies seitens Kairo gerne klein geredet wurde. Mehreren internationalen Presseberichten zufolge hatte sich der autoritär herrschende Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi zum Beispiel 2019 darum bemüht, die Ausstrahlung eines zuvor dem US-Nachrichtensender CBS gegebenen Interviews zu verhindern. Darin hatte er demnach erklärt, Ägypten und Israel arbeiteten im Kampf gegen militante Milizen so eng zusammen wie nie zuvor. "Wir haben eine breite Palette von Kooperationen mit den Israelis", so Al-Sisi damals.
Zudem hatten damals laut Medienberichten israelische Beamte öffentlich die Sicherheitskooperation mit Ägypten gelobt. Die Regierung in Kairo habe die Erlaubnis Israels eingeholt, Truppen, Panzer und Kampfhubschrauber im Nord-Sinai zu stationieren, um dort einen Ableger der Terrororganisation ISIS zu bekämpfen. hieß es. Eine solche Zusammenarbeit ist in großen Teilen der ägyptischen Bevölkerung sehr unpopulär. Daher kam die Berichterstattung al-Sisi damals ungelegen, auch wenn er damit umgekehrt in Israel und westlichen Staaten tendenziell eher punkten konnte.
Unklare Zukunft des Gazastreifens
Der jetzige Disput stehe zudem im Kontext der Diskussion um die Zukunft des Gazastreifens generell, sagt die Expertin Sonja Hegasy. Die Vorstellung, dass Israelis dieses Gebiet nach Ende des Kriegs wieder besiedeln könnten, wird derzeit wieder diskutiert - und von einem sehr weit rechts stehenden Teil der aktuellen israelischen Regierung sogar ausdrücklich befürwortet.
Tatsächlich hatten an einer politischen Konferenz mit dieser Zielrichtung am Sonntag (28.01.) in Jerusalem auch Minister der rechtskonservativen Regierungspartei Likud von Premier Benjamin Netanjahu teilgenommen. Netanjahu selbst hatte Pläne zur Wiederbesiedlung des Gazastreifens nach dem Krieg zwar als unrealistisch bezeichnet. Doch der als rechtsextrem geltende Polizeiminister Itamar Ben-Gvir rief Medienberichten zufolge unter anderem zu einer Rückkehr israelischer Siedler in den Gazastreifen und in weitere Teile des Westjordanlands auf, die dort lebenden Palästinenser sollten ihm zufolge zur Abwanderung "ermutigt" werden. Nur so könne ein weiteres Massaker wie am 7. Oktober verhindern, erklärte er.
Die Frage nach der Zukunft des Gazastreifens wird auch in israelischen Sicherheitskreisen diskutiert. "Israel will nicht langfristig für den Gazastreifen verantwortlich sein, aber die Frage ist, wie man sicherstellt, dass der Streifen entmilitarisiert bleibt", zitiert das Wall Street Journal einen namentlich nicht genannten hohen israelischen Militärbeamten. "Das ist ein echtes Dilemma. Die einzige Möglichkeit, ein geografisches Gebiet zu kontrollieren, besteht darin, zu kontrollieren, was hinein- und hinausgeht." In naher Zukunft und in den nächsten Jahrzehnten müsse Israel aus Sicherheitsgründen die Grenzen kontrollieren, so der Beamte weiter.
"Die Ägypter deuten auch solche Diskussionen vermutlich als Hinweis, dass Israel die Grenze wieder selbst kontrollieren wolle", sagt Nahost-Expertin Hegasy. "Dahinter steht dann die größere Frage, was grundsätzlich aus dem Gazastreifen wird. Und diese Frage kann bislang niemand beantworten."
Daran, so Hegasy, schlössen sich viele weitere Fragen an, "nämlich wie (künftig) die Grenzen des Gazastreifens gesichert werden, wo sie verlaufen - und was mit den Bewohnern des Gazastreifens geschieht. In dieser Frage will sich Ägypten natürlich nicht jetzt schon und auch nicht indirekt festlegen."