In Brasilien leben die Massenproteste gegen Korruption wieder auf. Doch sie werden immer mehr von politischen Parteien instrumentalisiert. Die Demonstranten scheint mittlerweile mehr zu trennen, als zu verbinden.
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In Brasilien waren die Jahre 2015 und 2016 von Massenprotesten geprägt. Auch in diesem Jahr gehen Hunderttausende gegen Korruption und die geplante Reform der Rentenversicherung auf die Straße. Allerdings haben die Demonstranten sehr unterschiedliche Forderungen. Die Protestbewegungen konkurrieren regelrecht miteinander.
Bei den Befürwortern der Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff ist es zurzeit ruhig. Ihr erster Protest in diesem Jahr ist für Sonntag, den 26. März, geplant. Nach der Absetzung Rousseffs im August 2016 geht es nun darum die Korruptionsbekämpfung fortzuführen und Amnestie-Maßnahmen für Korruptionsverdächtige zu verhindern.
Die Gegner von Rousseffs Impeachments hingegen fordern den Rücktritt des jetzigen Präsidenten Michel Temer. Ihr Protest richtet sich außerdem gegen die von dessen Regierung geplanten Reformen von Rentenversicherung und Arbeitnehmergesetzen. Bei den jüngsten Demonstrationen dieser Gruppierung gingen am 15. März in 19 brasilianischen Bundesstaaten Hunderttausende auf die Straße.
Nach Einschätzung von Gerhard Dilger, Direktor der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brasilien, spiegeln beide Protestbewegungen die allgemeine Unzufriedenheit mit dem politischen System im Land wider. "Die politischen Institutionen haben enorm an Glaubwürdigkeit verloren", sagt er. "Ein diffuses Gefühl allgemeiner Empörung hat sich breit gemacht."
Annäherung unerwünscht
Obwohl die Demonstranten unterschiedliche Ziele verfolgen, gibt es auch Gemeinsamkeiten, wenn es um Anforderungen an staatliche Institutionen geht. So befürwortete bei den Gegnern von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff 2015 und 2016 eine Mehrheit von 87 Prozent ein öffentlich finanziertes Bildungssystem. 74 Prozent sprachen sich laut Meinungsumfragen zudem für eine kostenlose öffentliche Gesundheitsvorsorge aus. Die Zahlen ähneln den Zustimmungswerten unten den Unterstützern von Rousseff.
Warum also scheint die beiden Gruppen trotz Übereinstimmungen mehr zu trennen als zu verbinden? Katharina Hofmann, stellvertretende Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien, macht dafür die seit 2014 im Land vorherrschende ideologische Polarisierung verantwortlich. "Sie verhindert jegliche Annäherung", so Hofmann. "Das Klima ist sehr radikal."
Nach Einschätzung von Politikwissenschaftler Pablo Ortellado von der Universität São Paulo (USP) benutzen politische Parteien die Gruppen für ihre Zwecke. Bei den Massenprotesten 2013haben zivilgesellschaftliche Gruppen unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung gemeinsam gegen die politische Klasse demonstriert. Der Protest richtete sich gegen Vertreter aller politischen Parteien", erinnert er.
Angst vor Lulas Comeback
Doch mittlerweile hätten sich die politischen Kräfte reorganisiert und die Polarisierung vorangetrieben, um die Zivilgesellschaft zu spalten. "Ziel ist es, Teile der Protestbewegung politisch zu instrumentalisieren", meint Politikwissenschaftler Ortellado.
Vor diesem Hintergrund sind Annäherungsversuche unerwünscht. Vergeblich versuchte die Bewegung "Vem pra rua" (Komm auf die Straße), bei den letzten Protesten gegen Korruption im Dezember 2016, auch Demonstranten aus dem linken politischen Lager zur Kundgebung einzuladen.
Sie wurden von Vertretern der konservativen Plattform "Movimento Brasil Livre" (MBL = Bewegung Freies Brasilien) ausgebremst. Si fürchteten, die Demonstrationen könnten in Anti-Temer-Proteste ausarten. Das aber dürfe auf keinen Fall geschehen, so die Ansage. Denn die Forderung nach einem Rücktritt von Präsident Temer könne eine Rückkehr von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und der Arbeiterpartei PT an die Macht befördern.
Brasiliens 2013: Wechselbad der Gefühle
Massenproteste, WM-Vorbereitungen, Diskobrand. 2013 war für Brasilien ein Jahr des politischen Aufbruchs voller Höhen und Tiefen.
Bild: Y.Chiba/AFP/GettyImages
"Vem pra rua" - "Komm auf die Straße!"
Das Wichtige spielte sich 2013 in Brasilien auf der Straße ab: Tausende protestierten, empfingen den Papst und feierten den Sieg ihrer Fußball-Nationalmannschaft beim Confed Cup. Immer schwang der Gedanke an das kommende Jahr mit und an das eine große Sportereignis: die Fußball-WM 2014. Doch der Beginn des Jahres wurde zunächst von einem sehr traurigen Ereignis überschattet ...
Bild: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images
Tränen und Verzweiflung
Sie wollten den Jahresauftakt feiern, doch dann kamen die Flammen: Über 230 junge Menschen - die meisten Studenten - starben bei einem Brand im südbrasilianischen Nachtklub "Kiss", der in den ersten Stunden des neuen Jahres ausbrach. Später stellte sich heraus, dass viele Sicherheitsmaßnahmen missachtet worden waren. Mehrere Verantwortliche stehen vor Gericht. Ein Urteil steht noch aus.
Bild: picture-alliance/dpa
Brasilianer wird neuer WTO-Chef
Einen Stimmungsaufheller gab es Mitte Mai: Roberto Azevêdo wurde zum neuen Chef der Welthandelsorganisation (WTO) gewählt - gegen den Willen von USA und EU. Die Wahl verdeutlicht die wachsende Bedeutung Brasiliens auf dem internationalen Parkett. Im September trat er sein Amt an. Und schon drei Monate später verzeichnete Azevêdo seinen ersten Erfolg mit dem Freihandelsabkommen von Bali.
Bild: Valter Campanato/ABr
20 Cent waren der Auslöser
Nach Trauer im Januar und Freude im Mai, kam im Juni die Wut: Tausende Brasilianer gingen auf die Straße, um gegen Korruption, Größenwahn und Geldverschwendung zu protestieren. Auslöser war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Die Demos begannen in São Paulo und weiteten sich rasant auf das ganze Land aus...
Bild: Reuters
"Wir brauchen keine WM"
... und richteten sich dann auch gegen die kommende Großveranstaltung: Ausgerechnet im Land des fünffachen Weltmeisters protestierten die Menschen gegen die WM 2014. Sie kritisierten die Milliardenausgaben der öffentlichen Hand und forderten statt Stadien ein besseres Bildungssystem, mehr Krankenhäuser und eine funktionierende Infrastruktur.
Bild: Getty Images
Brasilien gewinnt Confed Cup
Trotzdem ließen sich die Brasilianer natürlich nicht die Freude über den Sieg ihrer Nationalmannschaft im Finale des Confed Cups verderben. Mit einem klaren 3:0 schlug die "Seleção" den amtierenden Weltmeister Spanien und zeigte schon einmal, wie es bei der WM 2014 im eigenen Land ausgehen könnte. Doch gleichzeitig wurden die Proteste außerhalb der Stadien immer gewaltsamer...
Bild: picture-alliance/dpa
Klare Fronten
Die bloße Wut schlug immer häufiger in Aggression um: Immer rigoroser ging die brasilianische Polizei mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Und auch in den Reihen der Protestierenden bildeten sich immer mehr radikale Gruppen, die Geschäfte plünderten, Gebäude anzündeten und mutwillig provozierten.
Bild: Christophe Simon/AFP/Getty Images
Beten an der Copacabana
Ende Juli herrschte in Rio de Janeiro dann Begeisterung: Millionen Menschen aus aller Welt füllten die Straßen und Strände der Stadt. Denn die erste Auslandsreise des neuen Papstes führte anlässlich des Weltjugendtags an die Copacabana. Bei seiner Abschlussmesse ging Franziskus auch auf die protestierende Jugend ein und zeigte Verständnis für ihren Unmut.
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NSA-Skandal
Nach dem Höhenflug an der Copacabana folgte der nächste Aufreger. Offenbar hatte der US-Geheimdienst NSA das persönliche Handy von Staatspräsidentin Dilma Rousseff abgehört. Auch beim nationalen Mineralölkonzern Petrobras sollen die Amerikaner spioniert haben. Der Skandal führte sogar dazu, dass Rousseff ihren für Oktober geplanten Staatsbesuch bei US-Präsident Obama absagte.
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Das Land der Dichter und Denker
Als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentierte sich Brasilien im Oktober 2013 unter dem Motto "Ein Land voller Stimmen" von seiner literarischen Seite. Rund 100 brasilianische Schriftsteller reisten an den Main. Getrübt wurde die gute Stimmung einzig von der Absage des Stars Paulo Coelho: Er war mit der Liste der eingeladenen Autoren nicht einverstanden.
Bild: picture-alliance/dpa
Politiker hinter Gittern
Mitte November waren die Gefühle der Brasilianer geteilt: Erstmals mussten ranghohe Politiker wegen Bestechung hinter Gitter. Die einen jubelten über den Erfolg gegen die Korruption, die anderen bedauerten das Urteil gegen den ehemaligen Kabinettchef José Dirceu (Bild) und andere Angehörige der Regierung Lula da Silva, weil sie mit dem Kauf von Stimmen Sozialgesetze durchbrachten.
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Prominenz unter Palmen
Joachim Löw am weißen Sandstrand von Costa do Sauípe: Hier feierte sich der WM-Gastgeber Anfang Dezember noch einmal so richtig. Unter den Augen der ganzen Welt fand hier die Gruppenauslosung für das Turnier im kommenden Jahr statt. Doch selbst die strahlende Sonne Bahias konnte die Probleme nicht wegblenden, die im Zusammenhang mit dem Megaevent das ganze Jahr über immer wieder sichtbar wurden.
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"Alle Stadien werden rechtzeitig fertig"
Keine zwei Wochen zuvor war ein Baukran in das WM-Stadion von São Paulo gestürzt und hatte zwei Menschen getötet. Eine Woche später starben zwei Bauarbeiter auf der Stadion-Baustelle in Manaus. Sportminister Aldo Rebelo betont immer wieder, dass alle Stadien zu Beginn der WM stehen werden, doch nicht alle Beobachter lassen sich davon beruhigen.
Bild: Reuters
"Bildung auf FIFA-Niveau"
Die bis heute immer wieder aufflammenden Proteste haben bereits politische Veränderungen ausgelöst: Die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff hat zahlreiche Aufträge für Infrastrukturprojekte vergeben und weitere Reformen angekündigt. 2014 wird sich zeigen, wie zufrieden die Brasilianer damit sind. Denn dann wählen sie eine neue Regierung.
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Auch im linken politischen Spektrum sind die Fronten verhärtet. Schon im Dezember 2016 stellte der Anführer der Arbeiterbewegung MTST, Guilherme Boulos, klar, dass seine Anhänger unter keinen Umständen gemeinsam mit Sympahtisanten des MBL auf die Straße gehen würden.
Präsident Temer unter Druck
"Beide Seiten verneinen Gemeinsamkeiten, um ihre eigene politische Agenda voranzubringen", meint Politikwissenschaftler Ortellado. Die "Bewegung Freies Brasilien" protestiere zwar gegen Korruption, doch gleichzeitig trete sie für eine Verringerung staatlicher Aufgaben in der Gesellschaft ein, obwohl die Mehrheit ihrer Anhänger - wie in anderen Bewegungen - damit nicht einverstanden sei.
Auf der linken Seite ist der Protest gegen die Regierung mit der Unterstützung von Ex-Präsident Lula verknüpft. "Für Leute, die nicht mit Lula sympathisieren, aber dennoch gegen Temer sind, macht dies die Demos weniger attraktiv", sagt Ortellado.
Doch so sehr sich die politischen Parteien auch anstrengen, die Demonstranten für ihre Zwecke zu vereinnahmen: Auch unter den bisherigen Unterstützern Temers hat die Kritik an der Regierung zugenommen, fand eine Umfrage im Auftrag der spanischen Tageszeitung "El País" heraus. Für den Präsidenten hat Ortellado ein bitteres Fazit: "Egal, ob die Proteste parallel stattfinden oder zusammen: Temer ist politisch in der Defensive."