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PolitikEuropa

Wer war der "Regenschirmmörder"?

Christopher Nehring
16. März 2023

Francesco Gullino alias "Agent Piccadilly" war wohl der Mörder des Dissidenten Georgi Markov. Ein neuer Film zeigt nun: Niemand kannte Gullino wirklich. Er führte selbst den bulgarischen Geheimdienst an der Nase herum.

Artikelbilder - „Agent Piccadilly“
War er der "Regenschirmmörder"? Francesco Gullino (r.) ist der mutmaßliche Mörder des bulgarischen Schriftstellers und Dissidenten Georgi Markov (l.)Bild: Ulrik Skotte

Wer war Francesco Gullino? Seit der Journalist Hristo Hristov in Bulgarien auf die Herausgabe von dessen Agentenakte klagte und damit 2007 Erfolg hatte, weiß die Welt: Der in Bra geborene Italiener war seit 1971 "Agent Piccadilly" des berüchtigten bulgarischen Geheimdienstes. Bis heute ist er der Hauptverdächtige im Fall des "Regenschirm-Attentats", des Mordes an dem bulgarischen Schriftsteller und Dissidenten Georgi Markov 1978 in London. Markov starb damals an einer Vergiftung; das Gift, mutmaßlich Ricin, wurde ihm an einer Bushaltestelle in London offenbar mit einer Regenschirmspitze ins Bein injiziert.

Wer nun war der mutmaßliche Mörder Gullino? Eine neue dänische TV-Dokumentation des Journalisten Ulrik Skotte enthüllt unglaubliche Details aus dem Leben des mehrfach mordverdächtigen, sexuell gestörten Faschisten und notorischen Schwindlers.

Francesco Gullino alias "Agent Picadilly" bei einem Interview mit dem dänischen Journalisten Ulrik Skotte im Sommer 2021Bild: Ulrik Skotte

Gullinos Karriere beim bulgarischen Geheimdienst begann 1970, als er wegen Schmuggels und illegalen Handels mit Gebrauchtwagen in Bulgarien verhaftet wurde. Nur kurze Zeit später warb ihn der Geheimdienst unter dem Codenamen "Piccadilly" als Agent an. 1978 gaben die höchsten bulgarischen Geheimdienstler ein Bankett zu seinen Ehren, und just zum Zeitpunkt des Markov-Mordes reiste er im Geheimdienstauftrag nach London. Alle Dokumente über den Zeitraum danach wurden der "Piccadilly"-Akte 1990 vorsorglich entnommen und zerstört. 1992 wurde der damalige Spionagechef Wlado Todorow deswegen rechtskräftig verurteilt, sein Vorgesetzter und Mitverschwörer, der damalige Vize-Innenminister, General Stojan Sawow, beging Selbstmord, um nicht vor Gericht aussagen zu müssen.

Faschist und Pornograph

Was dem bulgarischen Geheimdienst allerdings entging und erst Skottes Film enthüllt: Gullino war zeitlebens bekennender Faschist. Seine Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" steht heute genauso im Schrank des dänischen Journalisten wie ein Kalender mit Mussolini-Bildern. Gullinos unappetitliche politische Gesinnung vermischte sich dabei mit seiner gestörten Sexualität. Als Kind war er einige Jahre bei seiner Tante in Italien aufgewachsen, die ein Bordell betrieb. Dadurch offenbar geprägt, suchte er zeitlebens Kontakt zu Prostituierten.

Model mit Hakenkreuzfahne, aufgenommen von Francesco Gullino in den 1980er-Jahren. Das Bild ist im Besitz von Ulrik Skotte.Bild: Francesco Gullino

Manche bezahlte er dafür, sich beim Sex in Hakenkreuzfahnen einzuwickeln oder in faschistischen Uniformen zu posieren. Für solche und andere pornographische Aufnahmen mietete Gullino eigens ein Fotostudio samt Sekretärin. Dort gab er sich als Fotograf und Modelagent aus und forderte im Gegenzug für Modeljobs pornographische Bilder oder sexuelle Gefälligkeiten. Über hundert solcher Bilder konnte das dänische TV-Team zutage fördern. Für Produzent Skotte, so sagt er der DW, waren Gullinos ausgeprägte und teils illegale sexuelle Vorlieben neben seiner bürgerlichen Existenz und seinem Leben als Geheimagent ein "drittes Leben".

Ausreden, Gegenfragen, Tricks

Gullinos Beziehung zu Prostituierten machten ihn, wie Skottes Film erstmals zeigt, auch in einem anderen Mordfall verdächtig: Am Silvesterabend 1989 wurde die Prostituierte Hanne With in Kopenhagen getötet. Auf ihrem Nachttisch fand sich ein Foto, das sie beim Reiten zeigte. Handschriftlich hatte sie auf die Rückseite geschrieben: "Reiten mit Gullino". Als die Polizei ihn befragte, gab er an, zum Tatzeitpunkt auf einer Feier gewesen zu sein, was die von ihm benannten Partygäste laut Polizeiakten am Telefon bestätigten. Doch: Vor Skottes Kamera bezeugten sie sämtlich, dass sie weder den Abend mit Gullino verbracht hatten, noch jemals von der Polizei befragt wurden. Wie Gullinos - offenbar gefälschtes - Alibi zustande kam, kann heute nicht einmal mehr die dänische Polizei rekonstruieren. 

Der dänische Journalist Ulrik Skotte (l.) zusammen mit dem Autor Christopher Nehring im Archiv des bulgarischen Geheimdienstes im Juni 2021

Im Februar 1993 wurde Gullino vom dänischen Geheimdienst PET und Scotland Yard verhört. Die Ermittler hatten die gesäuberte "Piccadilly"-Akte mittlerweile aus Bulgarien bekommen und befragten ihn zum Markov-Mord. Gullino wand sich, wich aus, schwieg oder stellte Gegenfragen. Einen Teil dieser Tricks hatte ihm der bulgarische Geheimdienst in den 1970er-Jahren bei einer speziellen Agentenausbildung beigebracht. Ein anderer Teil muss sein natürliches Talent gewesen sein. Die "Piccadilly"-Akte bezeichnete er als Fake, für die darin enthaltenen gefälschten Pässe mit seinem Foto habe er keine Erklärung. Er sei 1978 in London gewesen, aber habe Markov weder gekannt noch ermordet.

Was weiß der dänische Geheimdienst?

Die Ermittler mussten ihn noch im selben Jahr vom Haken lassen, da sie keine Beweise für seine Beteiligung am Regenschirm-Mord hatten. Doch, so resümiert Produzent Skotte, sei dies nur die halbe Wahrheit. Informationen, die die Journalisten einsehen konnten, deuten darauf hin, dass Gullino dem dänischen Geheimdienst PET wichtige Informationen übergab. Welche genau dies waren, daran forscht Skotte immer noch. Im Gegenzug durfte Gullino offenbar unbehelligt nach Österreich ausreisen und bezog seine dänische Rente über das Konsulat.

Der Schriftsteller und Dissident Georgi Markov. Der Mord an ihm ist bis heute nicht vollständig aufgeklärtBild: picture-alliance/dpa/epa/Stringer

Und woher kommen die neuen Informationen der dänischen Journalisten? Alles begann mit Franco Invernizzi, einem Journalisten und Freund Gullinos in Kopenhagen. Nachdem Gullino 1993 wegen des Markov-Mordes verhört worden war, stand er tags darauf aufgeregt vor Invernizzis Tür. In den folgenden Monaten, in denen Gullino wegen des Bankrotts seiner Firma bei seinem Freund einzog, erzählte er ihm seine Lebensgeschichte, übergab Unterlagen, Notizbücher und Fotos. Angeblich für einen Film, den Invernizzi über ihn und die "wahre Geschichte des Markov-Mordes" drehen sollte. Ein halbes Jahr später verließ Gullino Dänemark. Die Sammlung Invernizzis, dessen Witwe in dem Film zu sehen ist, war die Basis für den neuen Film. 2021 interviewte Skottes Team Gullino persönlich im österreichischen Wels.

Gullino, das Chamäleon

Wer also war Francesco Gullino? Ein sexuell gestörter Faschist. Ein Kunsthändler. Ein Geheimagent. Ein mehrfach Mordverdächtiger. Ein notorischer Schwindler und Lügner. Gullino konnte alles und jeder sein, fand überall Freunde, hatte eine passende Geschichte für jeden und eine Antwort auf jede noch so bohrende Frage. Wie das neue Material über ihn eindrucksvoll zeigt, lässt sich unter den jahrzehntelang angehäuften Geschichten, Versionen, Halbwahrheiten und Lügen kein echter Francesco Gullino finden. Vielleicht, weil es ihn nie geben hat.

Gullino, so fasst es Ulrik Skotte zusammen, war vor allem eines: ein Chamäleon. Und damit der geborene Geheimagent. Er starb im Sommer 2021 allein in seinem Haus. Seine Leiche wurde erst eine Woche nach seinem Tod gefunden, eingeäschert und anonym bestattet. Unmittelbar vor seinem Tod rief er, so erzählt Skotte, das dänische TV-Team noch einmal an. Am anderen Ende der Leitung hörten die Journalisten nur ein leises Röcheln.