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Die deutsche Identitätsdebatte

Sabine Peschel
25. März 2017

Die Identitätsdebatte ist brandaktuell. Wer sind wir? Und wer gehört zu uns? Auf der Leipziger Buchmesse bemühte sich eine Expertenrunde, "Strategien im Ringen um den gesellschaftlichen Wandel Europas" zu analysieren.

Deutschland Fußgänger Symbolbild Wir in Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Europa und seine Krise - auf der Leipziger Buchmesse gab es kaum eine Diskussion, die nicht auf dieses das Thema zurückkam. Es scheint aktuell nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch einen ungeheuren gesellschaftlichen Klärungsbedarf zu geben - oder aber auch nur eine große Verwirrung: Wofür steht Europa eigentlich noch? Wie soll seine Zukunft aussehen? Sind als Entwicklung des letzten Jahres die Grundfesten von Demokratie und Freiheit tatsächlich ins Wanken gebracht worden? Und wenn, waren dann die sogenannten Populisten daran Schuld, in Deutschland also die Pegida-Mitläufer und AfD-Parteigänger? Oder die Flüchtlinge, das internationale Finanzkapital? Oder tragen gar linke Gruppierungen mit ihrer politischen Korrektheit eine Mitverantwortung? 

Wer sind wir - Deutsche oder Europäer?
Es gibt eine Menge offene Fragen, allein das scheint festzustehen. Der von der gebürtigen Hamburgerin Esra Küçük kuratierte Programmschwerpunkt Europa21 hatte es sich im Rahmen der Buchmesse zur Aufgabe gesetzt, in mehreren Debatten Antworten zu finden. Also weg vom Fingerzeig auf das vermeintlich 'Andere' zu kommen - im letzten Jahr wurde über Flüchtlingsfragen debattiert - und stattdessen den Blick auf "uns in Europa" zu richten. 

Deutsch und europäisch zugleich Bild: picture-alliance/dpa

Wofür wollen wir in Europa eintreten? Das war die Frage, die die Leiterin des Berliner Gorki Forums in den Diskussionshorizont stellte. Doch: Wer sind "wir" - wer gehört dazu in den auseinanderdriftenden, sich schnell verändernden europäischen Gesellschaften? Und wer sind "wir" als Deutsche?

Gibt es überhaupt eine deutsche Identität?

Diskussionsrunde bei Europa21: Mark Terkessidis, Naika Foroutan, Moderator Harald Asel, Thomas MeinekeBild: DW/S. Peschel

In Deutschland lebten bereits 2015 insgesamt 17,1 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund, darunter vier Millionen Muslime, ein Bevölkerungsanteil von fünf Prozent. Fühlen sie sich als Deutsche, als Europäer? Kann es so etwas wie eine deutsche Identität überhaupt noch geben? Naika Foroutan ist stellvertretende Leiterin des Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten hat sie sich seit Jahren mit Fragen der nationalen Identität und des Wandels der Selbstwahrnehmung beschäftigt. Deutschlandweit bekannt wurde sie durch ihre Auseinandersetzung mit den Thesen Thilo Sarrazins. 

"Demokratie ist das Versprechen der Gleichheit"

Naika Foroutan arbeitet am Berliner Institut für empirische Integrations- und MigrationsforschungBild: picture-alliance/dpa/H. Hollemann

Erleben wir eine Krise der Demokratie? Und wenn ja, was ist an dieser gegenwärtigen Krise besonders, und warum hat sie so viel mit unserer Identität zu tun? "Demokratie ist nicht nur ein Verfahren, sondern das große Versprechen der Gleichheit", sagt Naika Foroutan und weist auf einen Konflikt zweier unterschiedlicher Dynamiken hin. Auf der einen Seite gebe es den Anspruch, dass die Identitätsansprache nicht mehr so kategorial sei: "Nenn mich nicht Migrantin, ich bin auch Deutsche." Auf der anderen Seite die Forderung, immer engführender zu differenzieren: "Wenn ich mich nicht benenne, bin ich nicht sichtbar. Dann kann ich auch nicht darauf aufmerksam machen, welche Diskriminierungsformen gerade meiner ethnischen oder religiösen Gruppe, meiner Herkunftsgruppe widerfahren." 

Diese beiden Forderungen widersprächen sich fundamental, begegneten sich jedoch beide in einem emanzipatorischen Raum der Gleichstellung. "Mit immer größer werdendem Bewusstsein treten immer mehr Gruppen auf den Plan, die diese Gleichheit für sich einfordern. Die plurale Demokratie ist anstrengend, das ist etwas, woran wir arbeiten müssen. Diese Anstrengung ist der Weg, der vor uns liegt."

"Wir müssen die Verunsicherung anerkennen"

Auch Mark Terkessidis, Publizist mit Schwerpunkt Popkultur und Migration und Autor von viel diskutierten Büchern wie "Kollaboration", sieht es als Aufgabe an, ein gesellschaftliches "Wir" erst noch zu entwickeln. "In Deutschland ist immer Krise. Man reagiert hier sehr hysterisch auf jedes Krisenphänomen, weil man das Bedürfnis hat, zu einem Normalzustand zurückzukehren." Einen Zustand, in dem alles ruhig sei. Davon müsse man wegkommen und die Verunsicherung in vielen Bereichen anerkennen. "Wenn es um das 'Wir' geht, finde ich, dass es seit den 60er Jahren ein Problem gibt, was wir unseren Kindern beibringen. Es gibt nicht genügend gesellschaftliches Gespräch darüber, was wir eigentlich weitergeben wollen."

Teilhabe als Schlüssel für Gemeinsamkeit
"Partizipation" ist für Terkessidis einer der Schlüssel zur Herausbildung eines gemeinsamen Selbstverständnisses. Er erinnert an die Willkommenskultur in Deutschland, die Welle von Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge, die neue Formen der Zusammenarbeit geschaffen habe. Dieses Engagement gibt es auch jetzt noch, sagt er, und es sollte sich neue Ziele setzen. "Wenn zum Beispiel Mieten und Kaufpreise für Wohnungen nicht mehr bezahlbar sind, treibt das eine Gesellschaft auseinander. Das ist eine vollkommen ungesunde Situation, dass Arbeit weniger bringt als Vermögen." Umgekehrt gelte das auch für Politiker, die zu wenig Berührungspunkte mit normalen Menschen hätten. "Raus aus dem Raumschiff!"

Mark Terkessidis setzt auf Partizipation Bild: picture-alliance/dpa/K. Schindler

Angst und negative Identitäten

"Angst" ist eines der dominierenden Schlagworte der Debatte. Mit dem Argument der Angst nutzen Parteien wie die AfD oder rechte Gruppierungen die gesellschaftlichen Veränderungen, um auf dem Rücken von Minderheiten Macht und Einfluss zu gewinnen. Der Musiker und Schriftsteller Thomas Meinecke, weist darauf hin, dass Identität jedoch immer ein Konstrukt sei. Die Sprache sei dabei eine entscheidende Waffe im Ringen um die Interpretationsfreiheit. "Man sollte an den Sprachregelungen arbeiten. Zum Beispiel schon einmal von Geflüchteten sprechen, nicht von Flüchtlingen - das klingt wie eine Neigungsgruppe." 

Naika Foroutan unterscheidet zwischen konkreter und symbolischer Angst - wie Carolin Emcke, die Friedenspreisträgerin 2016. Die symbolische Angst ließe sich instrumentalisieren, um Identitätsdebatten zu übertragen: "Nach der Wiedervereinigung musste man sich im Verständnis der neuen, westlich geprägten Republik von jeglicher Ostidentität wegemanzipieren." Diese "negativen Identitäten", gegen die man sich im Osten einkapselte, würden jetzt auf andere Gruppen wie Migranten übertragen. Ähnliche Prozesse vollzögen sich auch in ost- und südeuropäischen Ländern. 

Europa als Aufklärungsprojekt
Arbeiten am "fummeligen Kleinkram", wie Thomas Meinecke es nannte, weniger Hysterie in der Debatte und bei den Politikern eine Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen - das könnten die richtigen Ansätze zur Herausbildung einer gemeinschaftlichen Identität sein. Dann würden Worte wie Gleichheit, Respekt und Anerkennung nicht mehr als spießbürgerliche Begriffe wahrgenommen werden, hofft Naika Foroutan. Diese Identität wäre dann keine deutsche und keine europäische, sondern eine menschliche.

Für Thomas Meinecke ist Identität immer ein KonstruktBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

 

Bücher zum Thema: 

Naika Foroutan, u.a.: "Deutschland Postmigrantisch I-III: Migrantische Perspektiven auf deutsche Identitäten – Einstellungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund zu nationaler Identität in Deutschland", Berlin 2014 - 2016

Thomas Meinecke: "Selbst", Roman, Suhrkamp Verlag 2016, 472 Seiten 

Mark Terkessidis: "Kollaboration", Edition Suhrkamp 2015, 332 Seiten

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