Gefilmt hat Stefan Roloff alles im Jahr 1984: Szenen im Todesstreifen der Berliner Mauer, beobachtet vom Westen aus. Jetzt sind die riesigen Videostills als Ausstellung auf der Rückseite der East Side Gallery zu sehen.
Anzeige
"Beyond the Wall": Open-Air-Installation an der Berliner Mauer
Auch die Rückseite der Berliner "East Side Gallery" ist längst zur Ausstellungsfläche geworden. Der deutsch-amerikanische Künstler Stefan Roloff zeigt dort aktuell Portraits und Videostills aus den 1980er Jahren.
Bild: Reuters/H.Hanschke
Videostills: Zeitgeschichte pur
Der dokumentarische Blick vom Westen auf das gegenüberliegende Areal des Todesstreifens ist nur selten in künstlerischen Fotografien festgehalten worden. Der deutsch-amerikanische Fotokünstler Stefan Roloff beschäftigt sich seit langem mit historischen Berliner Motiven. Er gilt als Pionier auf dem Gebiet der digitalen Foto- und Videokunst. Alle Motive hat er 1984 an der Mauer selbst gedreht.
Bild: Reuters/H.Hanschke
Hotspot für Selfies
Noch ist die Fotoausstellung auf der Mauerrückseite nicht fertig installiert, schon kommen Touristen, um sie als Hintergrund für die obligatorischen Selfies zu nutzen. Auch die überdimensionierten Fotoarbeiten von Stefan Roloff werden auf privaten Facebook- und Social-Media-Kanälen ihren Weg durch die weltweiten Netzwerke antreten. Zu sehen ist die Open-Air-Ausstellung bis zum 9. November 2017.
Bild: Reuters/H.Hanschke
Geschichte auf Augenhöhe
Befremdliche Begegnung mit der deutschen Geschichte: die großformatigen Fotomotive sind bewußt auf Augenhöhe der Betrachter montiert. So gibt es kein Entrinnen vor dem direkten historischen Blick in das militärische Bewachungssystem durch die Nationale Volksarmee (NVA), dem viele DDR-Flüchtlinge bei Fluchtversuchen zum Opfer gefallen sind.
Bild: Reuters/H.Hanschke
Berliner Sehenswürdigkeit
Auch die legendäre "East Side Gallery" auf der anderen Seite hat sich seit dem Mauerfall 1989 zu einem wichtigen Anziehungspunkt nicht nur für Touristen entwickelt. Auch Einheimische kommen mit Besuchern zu dem historisch belasteten Ort, um dort die berühmten Selfies "Beyond the Wall" zu machen. Die verbliebenen Mauerreste sind inzwischen zum Gesamtkunstwerk der Sprayer geworden.
Bild: picture-alliance/S. Lubenow
Historischer Bruderkuss
Jeder Berlin-Tourist kennt diese Arbeit des russischen Künstlers Dimitrij Vrubel: Die Staatschefs Breschnew und Honecker, versunken im sozialistischen Bruderkuss. Seit 2009 ziert das künstlerisch verfremdete Foto die berühmte "East Side Gallery" auf der Straßenseite. Es gibt dort extra eine Bushaltestelle gleichen Namens, damit die ausländischen Berlin-Touristen schnell den Weg dorthin finden.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Burgi
West-Side-Gallery
Im Jahr 2016 stellte der Fotograf Kai Wiedenhöfer ebenfalls auf der Rückseite der East Side Gallery großformatige Fotografien aus. "War on Wall" thematisierte in eindrucksvollen Portraits und Momentaufnahmen aus zerbombten Städten den Bürgerkrieg in Syrien. Auch dies eine politisch ambitionierte Ausstellung. Starke Bilder, die für sich sprachen: Die Leidtragenden im Krieg sind immer die Kinder.
Bild: picture-alliance/dpa/R. Jensen
Kriegsbilder aus Syrien
Für Einheimische, die den Weg an der Mauer entlang tagtäglich nutzen, werden die großformatigen Fotografien der jeweiligen Ausstellungen schnell zum Alltag. Achtlos gehen manche daran vorbei. Für Berlin-Touristen gehört der Besuch der East Side Gallery zum Sightseeing-Pflichtprogramm - jetzt ist auch die künstlerisch gestaltete West Side Gallery ein Grund, in die deutsche Hauptstadt zu fahren.
Bild: picture-alliance/NurPhoto/O. Messinger
Politisch ambitionierter Künstler
Stefan Roloff (64), Künstler mit deutschem und amerikanischem Pass, hat seit langem mit Aspekten der deutschen Geschichte zu tun. Sein Vater, Helmut Roloff, war Mitglied der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle". 2013 fertigte der Maler und Videokünstler Arbeiten zur berüchtigten "Prinz-Albrecht-Strasse" an - dort residierte bis Mai 1945 das "Reichssicherheitshauptamt" (RSHA) der Nationalsozialisten.
Bild: Reuters/H.Hanschke
8 Bilder1 | 8
Erst waren es nur Videos, die direkt an der Berliner Mauer Alltagsszenen dokumentierten, gefilmt mit einer einfachen Kamera. Jetzt sind sie Kunst – in Form von Videostills und reliefartigen Portraits. Der deutsch-amerikanische Maler und Videokünstler Stefan Roloff (64) bespielt damit 229 Meter Mauerfläche auf der Rückseite der legendären Berliner East Side Gallery, dem längsten noch am Stück erhaltenen Rest der Berliner Mauer.
Zu sehen sind darauf monumental vergrößerte Videostills aus den 1980er Jahren, handwerklich eine große Herausforderung, erzählt Roloff im DW-Interview: "Das Problem damit war, dass ein VHS-Bild gedruckt auf einem Blatt Papier normalerweise nur die Größe einer Briefmarke hat - wenn es scharf sein soll. Die Möglichkeit, es drucktechnisch aufzublasen, war also nicht da. Ich brauchte eineinhalb Jahre dazu, eine Technik zu entwickeln, um diese Videostills wie Gemälde aussehen zu lassen."
Zeitgeschichte als Foto-Panorama
Auf der gesamten Länge des historischen Mauerstücks hat Roloff die Rückseite des Touristen-Hotspots zu einer Open-Air-Ausstellung gemacht, ein Filmband von drei Metern Höhe, das aus einzelnen und zu Themen gruppierten Videostills besteht - fast wie eine überlange Foto-Tapete. "Man sieht jetzt weder Pixel noch Unschärfen. Alle Konturen sind klar. Wenn man ein paar Meter zurücktritt und auf Distanz zu dem Bild geht, sieht man es in einer Schärfe wie ein fotorealistisches Gemälde."
Entstanden sind die Videos 1984. Wochenlang hat Stefan Roloff damals den ganz normalen Alltag der NVA-Soldaten auf der DDR-Seite beobachtet und auf Video dokumentiert - als erschreckende Banalität eines Überwachungsstaates.
Der Künstler, der an der Berliner Hochschule der Künste Malerei studiert hat, gilt als Pionier der digitalen Videokunst und bearbeitet häufig Motive aus der deutschen Geschichte. Den Umbruch nach dem Fall der Mauer und dem endgültigen Ende der DDR hat er als zwiespältig erlebt.
Roloff gehörte zu den mutigen Künstlern, die vor 1989 verbotenerweise Graffiti auf die scharf bewachte Mauer gesprüht haben. "1990 wurden offiziell Graffitikünstler nach Berlin eingeladen, um die Mauer (die heutige East Side Gallery, Anmerk. d. Red.) zu bearbeiten. Ich fand das persönlich etwas sonderbar, weil ich einer derjenigen Künstler war, die zuvor die Original-Graffiti gemacht haben, als es noch gefährlich war. Jetzt diese Fake-Graffiti zu sehen, ist für mich schon äusserst seltsam."
"Beyond the Wall": Erlebte Geschichte
Von den Aussichtstürmen im Westen aus beobachtete Roloff damals NVA-Soldaten, die im ehemaligen Todesstreifen der Berliner Mauer ihren Dienst verrichteten. Roloff filmte auf der gegenüberliegenden Westberliner Seite Alltagsszenen von erschreckender Normalität: Soldaten harken sorgsam das aufgeschüttete Sandareal, in dem versteckte Minen vergraben waren: "Vorsichtsmaßnahmen zur Sicherheit der eigenen Leute", erzählt Roloff im DW-Interview.
Die East Side Gallery hat sich seit dem Mauerfall im Laufe der letzten 25 Jahre längst zum Magnet für Berlin-Touristen entwickelt. Großformatige Graffitis und Sprayerkunst zieren die Betonflächen, die inzwischen sogar als Gesamtkunstwerk urheberrechtlich geschützt ist. Doch auch die Rückseite des Mauerstücks wird als Open-Air-Galerie genutzt. Hier stellen regelmäßig bekannte Fotografen oder Künstler aus. 2016 waren dort großformatige Arbeiten des Fotografen Kai Wiedenhöfer zu sehen: Bilder aus dem Bürgerkrieg in Syrien.
Für seine aktuelle Ausstellung "Beyond the wall", die bis zum 9. November 2017 in Berlin open air zu besichtigen ist, kombiniert der in Berlin geborenen Stefan Roloff Videostills mit Portraits, Zitaten und Silhouetten von Menschen, deren Leben auf der Ostberliner Seite auf ganz andere Weise durch die Mauer geprägt waren. Abstrakte Zeitzeugen, fast schon entpersonalisiert. Erst ihre persönlich erlebten Zitate füllen die Arbeit mit Leben: "Ich habe gesehen, dass irgendwie eine Totenstille in der Stadt war", sagt beispielsweise Carola S.
Die Mauer: Ein Ort des Schreckens
Stefan Roloff bedauert, dass nur so wenig von der Berliner Mauer erhalten geblieben ist. Kaum jemand könne sich vorstellen, was sich früher zu DDR-Zeiten dort abgespielt habe: "Die Leute sehen nur noch eine drei Meter hohe Mauer und sagen, so schlimm sieht das ja gar nicht aus. Man sieht nicht mehr, was für ein Ort das wirklich gewesen ist, was für eine schreckliche Todesmaschine - mit elektrischen Zäunen, schwer bewaffneten Wachposten, Scheinwerfern, Lastwagen und deutschen Schäferhunden."
In langen Interviews haben ehemalige DDR-Bürger Stefan Roloff von ihrer Flucht erzählt, mehr als 70 hat er nach dem Mauerfall 1989 befragt. Mario Röllig zum Beispiel, der 1987 nach einem Fluchtversuch über die ungarische Grenze verhaftet wurde und im berüchtigten Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen landete. Röllig war bei der offiziellen Ausstellungseröffnung am 13. August dabei – als lebender Zeitzeuge. Weit mehr als 100 DDR-Flüchtlinge, die zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 die Flucht über den schwer bewachten Todesstreifen riskierten, haben es nicht überlebt. Die genaue Zahl ist bis heute umstritten.
Info: Die Ausstellung "Jenseits der Mauer / Beyond the Wall" von Stefan Roloff wird ausgeführt von "Kunst darf alles e.V." in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin, das Begleitprogramm gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Zu sehen ist sie bis zum 9. November 2017.
East Side Gallery
Im Februar 1990 begannen 118 Künstler aus 21 Ländern damit, die Berliner Mauer zu bemalen. Bis September entstanden mehr als 100 großflächige Bilder. Die Berliner East Side Gallery war geboren. Ein Rückblick.
Bild: DW
Touristenattraktion East Side Gallery
Sie ist einer der meistfotografierten Orte Berlins: die East Side Gallery. Auf einem 1,3 Kilometer langen Mauerstück haben viele Künstler ihre Gedanken zur Wiedervereinigung in Bildern verewigt. Dimitri Vrubel war einer von ihnen, damals ein völlig unbekannter Kunststudent aus Moskau. Er malte den Bruderkuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker. Das Bild wurde zur Ikone, Vrubel weltberühmt.
Bild: Reuters/F. Bensch
Erinnerung an Mauertote
Die East Side Gallery erstreckt sich auf der Hinterlandmauer, die zu DDR-Zeiten im Osten der Stadt und noch vor der eigentlichen Berliner Mauer stand. Zwischen der Hinterlandmauer und der Grenzmauer befand sich der Todesstreifen mit Wachtürmen und patrouillierenden Soldaten, die den Befehl hatten, auf "Republikflüchtlinge" zu schießen.
Bild: Fotolia/creedline
Open-Air-Museum unter Denkmalschutz
Am 28. September 1990 wurde die East Side Gallery eröffnet. Viele Kunstwerke haben Eingang in das kollektive Gedächtnis Deutschlands gefunden und - auf Postkarten gedruckt - in jedem Berliner Souvenirshop zu finden. So auch Thierry Noirs "Hommage an die junge Generation". Seit November 1991 steht die East Side Gallery unter Denkmalschutz.
Bild: DW/Frederike Müller
Umstrittene Sanierung
Da die Mauer Wind und Wetter, Touristen und Mauerspechten ausgesetzt ist, muss sie immer wieder saniert werden. Im Oktober 2008 sollten die Kunstwerke komplett entfernt und von den Künstlern noch einmal neu aufgetragen werden. Manche weigerten sich, aber die meisten machten doch mit, so dass ein Großteil der Bilder wiederhergestellt werden konnte.
Bild: Getty Images/ Sean Gallup
Kunst-Flashmob an der East Side Gallery
Auch der deutsche Pop-Art-Künstler Jim Avignon hat sich 1990 mit seinem Bild "Doin It Cool For The East Side" an der East Side Gallery verewigt. 2013 kam er in die Schlagzeilen, weil er zusammen mit Kunstschülern ohne offizielle Genehmigung sein Bild übermalt hatte. Viele Künstler kritisierten seine Nacht-und-Nebel-Aktion.
Bild: Reuters
Investor drückt Teilabriss durch
Für den Bau eines Hochhauses versetzten Bauarbeiter 2013 Teilstücke der East Side Gallery. Die entstandene rund sechs Meter breite Lücke wurde zur Baustelleneinfahrt. Das führte zu Protesten: Berliner Bürger und Prominente setzen sich für einen Baustopp ein - erfolglos. Inzwischen steht der Wohnturm, 80 Prozent der Wohnungen sind verkauft. Mitte 2015 sollen alle Bauarbeiten abgeschlossen sein.
Bild: picture-alliance/dpa
Mauer verfällt zusehends
Obwohl manche Künstler ihre Werke schon mehrmals ausgebessert oder gleich ganz übermalt haben, verblassen viele Bilder mehr und mehr und werden mit Kritzeleien verunstaltet. Die Mauer sei im Moment in einem "bemitleidenswerten Zustand", findet Künstler Thomas Klingenstein, ehemals ein DDR-Oppositioneller, der auch einen Teil der East Side Gallery gestaltet hat.
Bild: picture-alliance/dpa/Hans Wiedl
East Side Gallery auf der Leinwand
Im Januar 2015 kam der Dokumentarfilm "Berlin East Side Gallery" ins Kino. Die Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies dokumentieren darin, welchen Umbrüchen die Open-Air-Galerie seit der Sanierung 2009 ausgesetzt war. Der Künstler Thomas Klingenstein hofft sehr, "dass dieser Film dazu beiträgt, das Stück Mauer endlich zu schützen".