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Politik

Unerfüllbare Riesenerwartungen an Berlin

Thomas Brey
2. Juli 2020

Auf der deutschen EU-Ratspräsidentschaft liegen große Hoffnungen - auch im Westbalkan. Sechs Länder in der Region erwarten Unterstützung im festgefahrenen EU-Erweiterungsprozess. Junge Leute möchten Reiseerleichterungen.

Polen, Angela Merkel auf dem Westbalkan-Gipfel  2019
Bundeskanzlerin Merkel auf dem Westbalkan-Gipfel in Polen (5. Juli 2019)Bild: Getty Images/J. Skarzynski

"Ich möchte ein Teil der EU sein und nicht dorthin auswandern. Ich will eine Gesellschaft, die die Werte der EU lebt und atmet". So beschreibt Teodora Cvetkovska aus Nordmazedonien ihre Erwartungen an die deutsche EU-Präsidentschaft. Auch wenn wohl viele in den sechs Staaten des Westbalkans diese Sätze unterschreiben werden - ob sich die halbjährige deutsche Führung der EU wirklich um die vielen Probleme im westlichen Balkan kümmern kann, ist mit einem großen Fragezeichen versehen. Denn Bundeskanzlerin Angela Merkel hat klargemacht, wo die Schwerpunkte der deutschen EU-Präsidentschaft liegen: Die Bewältigung der Coronakrise samt Wiederaufbau der schwer in Mitleidenschaft gezogenen europäischen Wirtschaft sowie der Brexit stehen auf der Agenda konkurrenzlos oben.

Dennoch haben die sechs Länder des westlichen Balkans - Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien - an die neue Rolle Berlins Riesenerwartungen, die selbst theoretisch nicht erfüllt werden können. Die besten Chancen auf Fortschritte haben noch Albanien und Nordmazedonien in ihrem Bemühen um eine schnellere Annäherung an die EU. Denn Deutschland macht sich schon seit langem dafür stark, war aber im letzten Oktober von Frankreich, den Niederlanden und Dänemark ausgebremst worden. Keine weiteren Beitritte ohne tiefgreifende Reformen bei den Kandidatenländern, lautete das Credo dieser drei EU-Mitglieder. Und: Neue Beitritte könne es erst nach einer gründlichen Reform der Unionsstrukturen geben. In einer EU-typischen Reaktion wurden die Beitrittskriterien kosmetisch überarbeitet und im vergangenen März gab es dann doch grünes Licht für Tirana und Skopje.

EU-Westbalkan: Video-Gipfel während der kroatischen Ratspräsidentschaft (6. Mai 2020)Bild: Getty Images/AFP/D. Sencar

Wirtschaftliche Unterstützung

Viele Balkanländer bauen auf die EU und vor allem auf Deutschland bei der finanziellen Unterstützung wichtiger Infrastrukturprojekte. Dazu zählen zum Beispiel die Eisenbahnverbindung zwischen dem serbischen Nis und der Kosovo-Hauptstadt Pristina, der Bau von Autobahnen in Bosnien-Herzegowina entlang europäischer Transitkorridore und der Bau oder Ausbau von Pipelines zwischen den Staaten Südosteuropas für Gas und Öl, damit sie endlich untereinander vernetzt werden.

Auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Region sind die Staaten dort arm geblieben. Monatslöhne erreichen manchmal kaum 500 Euro, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Konsumstandard niedrig. Darum sind die Überweisungen der vorübergehend oder dauernd in den Westen ausgewanderten Verwandtschaft überlebenswichtig. Knapp neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts dieser Länder werden durchschnittlich von diesen Zuwendungen bestritten. Aber werden die Verwandten im Ausland trotz Coronakrise weiter Arbeit haben und Geld nach Hause schicken können? Und wird sich Deutschland wie bisher dafür einsetzen, dass auch unqualifizierte Menschen vorübergehend einreisen dürfen, um zu arbeiten?

 Eine selbstbewusste Jugend

Daher stehen Reiseerleichterungen ganz oben auf der Wunschliste aller Balkanländer. Das gilt vor allem für die jungen Menschen, die sich mit eigenen Augen ein Bild von den EU-Ländern machen wollen. "Ich bin ein Teil von Europa, obwohl mein Land noch nicht zur EU gehört", formuliert die Jugend selbstbewusst nicht nur im Kosovo. Oft wird ergänzt: "Wir haben das Vertrauen in unsere Politik verloren und hoffen auf die EU". Dass Brüssel es bisher kaum geschafft hat, sich gegen immer autoritärere Regierungsstrukturen zu stemmen, wird inzwischen von den Zivilgesellschaften immer lauter kritisiert. Medien- und Meinungsfreiheit stehen an erster Stelle.

Das Problem der EU-Balkanpolitik ist traditionell die Zersplitterung der Kompetenzen. Längst ziehen nicht alle 27 Länder an einem Strang. Daneben stößt die Personalauswahl in Brüssel oft auf Unverständnis. So ist der Spanier Josep Borrell als Außenbeauftragter auch für den Balkan zuständig. Sein Abgesandter dort ist der frühere slowakische Außenminister Miroslav Lajcak. Weil aber Spanien und die Slowakei aus innenpolitischen Gründen die völkerrechtliche Anerkennung Kosovos verweigern, stehen die Chancen für einen ehrlichen Ausgleich zwischen Serbien und seiner heute unabhängigen früheren Provinz Kosovo nicht besonders gut.

Komplizierte Gemengelage

Die sechs Westbalkan-Länder und ihr Verhältnis zur EU

Die EU wird auf dem Balkan in letzter Zeit zunehmend von den USA herausgefordert, die hier ihre eigenen Ziele verfolgen. Die sind mit den Vorstellungen Brüssels oft gar nicht deckungsgleich. Jüngstes Beispiel ist der Dauerkonflikt zwischen Serbien und dem Kosovo. Die USA nahmen der EU als langjähriger Vermittlerin die Butter regelrecht vom Brot, als sie die Spitzen der beiden zerstrittenen Länder für den 27. Juni ohne Abstimmung mit Brüssel ins Weiße Haus einluden. Das spektakuäre Treffen platzte nur, weil der aus den USA stammende Staatsanwalt des internationalen Kosovo-Tribunals in Den Haag plötzlich eine Anklage gegen den Kosovo-Staatspräsidenten Hashim Thaci veröffentlichte. Der soll als früherer Rebellenführer mit anderen Angeklagten für die Ermordung von rund 100 Menschen 1998/99 im Bürgerkrieg verantwortlich sein. So kommt die EU wieder ins Spiel. Im Juli sollen in Paris die Spitzen aus Serbien und Kosovo eine neue Vermittlung anschieben, die in Brüssel vorgesehen ist.

In dieser internationalen Gemengelage sind prinzipielle Fortschritte bei den großen offenen Balkanproblemen schwierig. Weil die bisher oft jahrzehntelang herrschenden Spitzenpolitiker in diesen Ländern unzählige Male Reformen und Modernisierung versprochen und dann nicht gehalten haben, muss die EU auch nach der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf die Jugend der sechs Westbalkanstaaten setzen. Denn "If you don't fix it, we will all come to Germany", formuliert eine selbstbewusste junge Frau aus Bosnien-Herzegowina nicht nur im Spaß.