1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Westbalkan in der EU-Warteschleife

10. Juli 2017

Vor der Westbalkankonferenz in Triest sprechen alle über Wirtschaftsprojekte. Ein EU-Beitritt dagegen rückt in immer weitere Ferne – weil es keine Reformen gibt und weil die EU mit sich selbst beschäftigt ist.

Symbolbild Westbalkan Flaggen (mit EU)
Bild: picture-alliance/Photoshot/Qian Yi

"Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union" – diesen Satz haben die europäischen Staats- und Regierungschefs noch im Jahr 2003 unterschrieben. Das sogenannte Versprechen von Thessaloniki aber klingt heute so nebulös wie die antiken griechischen Mythen. Denn seit es gegeben wurde, ist von den Westbalkanländern nur Kroatien der EU beigetreten. Mit der Abspaltung des Kosovo von Serbien ist dafür ein neuer Problemfall entstanden. Erweiterung? Das Wort nimmt kaum noch jemand in den Mund. "Die Erweiterung ist wie ein geköpftes Huhn", sagte ein früherer serbischer Diplomat gegenüber BuzzFeed. "Es rennt noch, ist aber eigentlich tot."

Das Versprechen sei vielleicht nur taktisch gegeben worden, meint Eric Gordy vom Londoner University College – um den Einfluss der EU in den Balkanländern zu erhalten. Denn in all den Jahren waren in Serbien, Bosnien, Albanien, Montenegro, Mazedonien und dem Kosovo Eliten an der Macht, die ihre Länder zumindest formell in Richtung EU führten. "Die Taktik zieht aber immer weniger. Es scheint, dass es immer mehr Stimmen gibt, die gegen eine Erweiterung sind. Um ihren Einfluss zu behalten, muss die EU darum eine realistische Beitrittsperspektive anbieten", sagte Gordy der DW.

Keine Rabatte

Über die schwindende Macht des Westens dürften sich Russland und die Türkei, aber auch China und die Länder der Arabischen Halbinsel freuen. EU-Diplomaten versuchen, rhetorisch dagegenzuhalten: "Wir wollen diese Länder in die EU führen", sagte jüngst Christian Hellbach, der Sonderkoordinator für den Westbalkan im Auswärtigen Amt, im DW-Interview. "Es ist aber kein Geheimnis, dass die Annäherung an die EU sehr langsam vorankommt, weil nicht alle Akteure wirklich Interesse an nachhaltigen Reformen haben." Eine diplomatische Formel hört man auf dem Balkan darum täglich: In Punkto Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Kampf gegen Korruption könne es keinen Rabatt geben.

Gruppenbild mit Dame: Die führenden Politiker der sechs Länder mit der Vertreterin der EU Mogherini im MaiBild: European Union

Die Lage in den betroffenen Ländern gibt dem Recht: Viele hadern mit der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz, Medien werden an der kurzen Leine gehalten und der staatliche Etat wird als Geldbeutel der jeweils regierenden Partei wahrgenommen. Dazu gibt es scheinbar unüberwindbare Hürden wie den Streit zwischen Belgrad und Priština um die Unabhängigkeit des Kosovo, die mazedonischen Dauerprobleme mit Griechenland wegen seines Namens oder die fehlende Bereitschaft dreier Völker in Bosnien, sich auf eine Verfassungsreform zu einigen. Nur Montenegro und Serbien verhandeln mit der EU über einen Beitritt, das Kosovo und Bosnien sind nicht einmal offizielle Kandidaten.

Professor Gordy ist skeptisch, dass sich das schnell ändern wird. Weil die Balkanfürsten nur ungerne Macht abgeben, blieben nur zwei Optionen übrig: ewig im EU-Warteraum sitzen oder auf einen Kompromiss hoffen, bei dem Brüssel die Tür öffnet, obwohl die Kriterien nicht erfühlt sind. "Sowas hat die EU schon gemacht", sagt Gordy. Bulgarien und Rumänien etwa sind nach wie vor Korruptionsoasen, Zypern wurde ohne klar definierte Grenzen aufgenommen. Das aber dient in Brüssel inzwischen als Warnung – keiner dort scheint Lust zu haben, neue Probleme zu importieren.

Die Begeisterung schwindet – auf beiden Seiten

Die EU ist derzeit ohnehin eher mit sich selbst beschäftigt, mit der Finanzkrise, mit Flüchtlingen, dem Brexit, dem Seiltanz zwischen Trump und Putin. "Im Moment habe ich keinen Kopf für die Erweiterung", sagte der heutige Chef der EU-Kommission Jean-Claude Juncker schon im Jahr 2012, das man aus Brüsseler Sicht heute wohl als gute alte Zeit bezeichnen würde. Auch in Deutschland, das auf dem Balkan als Lokomotive der europäischen Einheit gesehen wird, zeigten zwei Umfragen im vergangenen Herbst: zwei Drittel der Bevölkerung wollen in absehbarer Zeit keine Aufnahme der neuen Länder.

"Die EU ist in einem Zustand, dass - wenn sie sich selbst beitreten wollte - sie große Probleme haben würde, die Kriterien dafür zu erfüllen", kritisiert Sevim Dağdelen, die Abgeordnete der deutschen Linken. Viele erlebten die EU als "Sozialabbaumaschine" und glaubten nicht mehr an das Wohlfahrtversprechen. "Vor diesem Hintergrund gibt es eine wachsende Skepsis im Hinblick auf die Erweiterung."

Diese Erweiterungsmüdigkeit hat sich längst auf dem Balkan herumgesprochen. Ohne klaren Zeitplan aber verlören die Bürger den Glauben, sagte jüngst der serbische Außenminister Ivica Dačić. "Das ist schlecht, für uns und für die EU." Und so schmilzt auch auf dem Westbalkan die Begeisterung. An der Universität von Belgrad etwa sprach sich im Juni eine Mehrheit der Studenten gegen einen Beitritt aus. "Der stärkste Trumpf, den die EU je hatte, war eine Garantie für die Unumkehrbarkeit demokratischer Reformen", analysiert Gordy. Der aber sei dahin, wegen der schwachen Reaktionen aus Brüssel auf autoritäre Regierungen in Polen und Ungarn.

"Marshallplan" für Balkan?

Vor allem Berlin setzt auf die wirtschaftliche Anziehungskraft der EU, die nach wie vor stark bleibt. Von einer Zollunion und einem gemeinsamen Markt der sechs Balkanländer ist die Rede und seit kurzem auch von "Berlin plus", einem deutschen Plan, mit EU-Geldern große Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Ein Paradebeispiel soll die Autobahn sein, die Serbien, Kosovo und Albanien verbinden würde. "Wenn wir bei solchen Themen unterstützen können, merken die Leute: Es tut sich was", hofft Hellbach.

Dieser optimistisch "Marshallplan für den Balkan" genannte Plan wird das wichtigste Thema auf der Westbalkankonferenz in Triest am Mittwoch sein. Offen ist allerdings, aus welchem Topf die Finanzmittel dafür kommen sollen. Und obwohl sich die Machthaber auf dem Balkan auf den angekündigten Geldregen freuen dürften, gibt es auch Bedenken – zum Beispiel beim montenegrinischen Außenminister Srđan Darmanović: "Kein Modell der Zusammenarbeit darf zur Verlangsamung der Erweiterungspolitik führen oder ein Ersatz dafür sein."

Für die Menschen auf dem Balkan bedeutet das Warten im europäischen Hinterhof einen harten Überlebenskampf: Die offizielle Arbeitslosenquote zwischen 15 und 30 Prozent halten viele noch für geschönt, das monatliche Nettoeinkommen zwischen 360 und 500 Euro steht oft nur denjenigen zu, die ein entsprechendes Parteibuch haben. Zigtausende, vor allem junge und gut Ausgebildete, wandern jedes Jahr in Richtung Westeuropa aus. Eine Lage, die zu Zynismus führt – wie vor ein paar Tagen in einem Tweet deutlich wurde: "Wir werden der EU beitreten, aber stufenweise – jedes Jahr 20.000 Menschen."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen