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Konflikte

Wieso sich die Lage in der Westbank zuspitzt

16. Mai 2021

Mit Verzögerung ist die neue Welle des Nahostkonflikts auch im Westjordanland angekommen. Doch richten sich die Proteste dort nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Fatah-Führung.

Westjordanland West Bank | Nahostkonflikt | Demonstranten
In Hebron warfen Demonstrierende am Freitag Steine auf SicherheitskräfteBild: Mamoun Wazwaz/Anadolu Agency/picture alliance

Lange war es im Westjordanland relativ ruhig geblieben: Die aktuelle Eskalation startete in Ostjerusalem, wo palästinensischen Bewohnern des Viertels Sheich Dscharrah die Zwangsräumung zugunsten jüdischer Siedler drohte. Dann begann die islamistische Terrororganisation Hamas, von Gaza aus Raketen auf Israel zu schießen - die israelische Luftwaffe bombardierte ihrerseits Ziele. Im israelischen Kernland kam es zu zahlreichen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis. "Es fühlte sich von Ramallah aus so an, als wenn man in einer Beobachterposition wäre", sagt Steven Höfner, Büroleiter der deutschen CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) im administrativen Zentrum des Westjordanlands.

Das änderte sich am Freitag - dem Wochentag, an dem es nach den Gebeten immer wieder zu Zusammenstößen kommt: Von verschiedenen Orten wurden zunehmend gewaltsame Demonstrationen gemeldet, darunter in der Umgebung von Ramallah, Hebron, Nablus und Dschenin. Auf palästinensischer Seite kamen Brandsätze und Steinschleudern zum Einsatz, die israelischen Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Gummigeschosse, aber auch scharfe Munition ein. Am Ende des Tages meldete das palästinensische Gesundheitsministerium zehn getötete Demonstrierende und rund 150 Verletzte.

Auch in Ramallah gab es heftige AusschreitungenBild: Issam Rimawi/Anadolu Agency/picture alliance

Beobachter sprechen von den schwersten Ausschreitungen seit der Zweiten Intifada - dem fünfjährigen Palästinenser-Aufstand gegen Israel ab 2000 mit rund 1000 israelischen sowie etwa 3500 palästinensischen Todesopfern.

Fatah hat kein Interesse an Eskalation

Im Westjordanland spielt die politische Führung eine mäßigende Rolle. An der Macht ist die Fatah-Partei, die wiederum dem Dachverband der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) angehört. Sie arbeitet in vielen Bereichen mit Israel zusammen und ist auch international vernetzt. Ihr Anführer Mahmud Abbas hat zwar angesetzte Wahlen immer wieder verschoben, sodass er seit mehr als zehn Jahren ohne demokratische Legitimation agiert. Dennoch ist der 85-Jährige die erste palästinensische Anlaufstelle für Diplomaten - am Samstag telefonierte etwa US-Präsident Joe Biden mit seinem israelischen Amtskollegen Benjamin Netanjahu und mit Abbas.

Abbas hatte für den 22. Mai geplante Wahlen kurzfristig abgesagt, offiziell wegen des Konflikts in Ostjerusalem. Allerdings hätte der Fatah auch eine Niederlage gedroht: Umfragen zufolge hatte die Hamas gute Chancen auf einen Wahlsieg gehabt - die radikale Gegenbewegung zur PLO also, die Israel das Existenzrecht abspricht und die seit 2007 die Vorherrschaft im Gaza-Streifen innehat.

Mahmud Abbas ist seit 2009 ohne demokratische Legitimation an der MachtBild: Nidal Eshtayeh/XinHua/picture alliance

Eine absolute Mehrheit für die Hamas und somit eine Machtübernahme im Westjordanland habe trotzdem nicht bevorgestanden, sagt KAS-Büroleiter Höfner: "Die Fatah war vor allem gefährdet durch eine innere Spaltung. Vor allem drei Blöcke hätten sich die Stimmen aufgeteilt."

Im politischen Wettstreit schadet die Eskalation der Sicherheitslage in der Westbank seit dem Wochenende weiter der Fatah: "Seitdem der Konflikt vor allem im Gaza-Streifen eskaliert ist, gibt es zunehmende Zustimmung zur Hamas, vor allem Solidarisierung mit der Hamas, gegen die israelische Politik aufzustehen und sich zur Wehr zu setzen. Und das gewinnt auch im Westjordanland an Zulauf." Für die Fatah könnte zur Gefahr werden, "dass sich der Protest nicht nur gegen Israel richtet, sondern auch gegen die eigene Führung", sagt Steven Höfner. Die Fatah-Führung werde daher versuchen, die Proteste klein zu halten und die Sicherheitskooperation mit Israel fortzusetzen. 

Wenig wirtschaftliche Zuwächse

Die Bevölkerung im Westjordanland hat zwar bessere Lebensstandards als jene im Gazastreifen. Aber auch unter der Führung der Fatah hat es in all den Jahren kaum wirtschaftliche Fortschritte gegeben. Die Lage hat sich noch einmal rapide verschlechtert, als die damalige US-Regierung unter Donald Trump 2018 die Hilfsgelder für die Palästinensergebiete zusammenstrich. Dessen Nachfolger Biden will die Zahlungen wieder aufnehmen. Weiterhin ist die Wirtschaft stark von Israel abhängig.

Die Westbank ist von einer echten palästinensischen Selbstverwaltung weit entfernt: Zwar wurde im zweiten Osloer Vertrag von 1995 Autonomie festgeschrieben - allerdings nur für einen Teil des Gebiets. 61 Prozent wurden als "Area C", deklariert, in denen Israel die volle Kontrolle über Sicherheits- und Verwaltungsbelange hält. Darunter fallen nicht nur Checkpoints, Straßen und jüdische Siedlungen, sondern auch fast das gesamte geopolitisch für Israel wichtige Jordantal.

"Die Chancen für einen Palästinenser, eine Baugenehmigung in Area C zu erhalten, sogar auf einem privaten Grundstück, sind gering bis nicht vorhanden", schreibt die israelische NGO B'Tselem auf ihrer Webseite. Gleichzeitig hat in den vergangenen Jahren der Zuzug von häufig orthodoxen und nationalistischen jüdischen Siedlern stark zugenommen.

Kein Draht zur jungen Generation

Besonders in der Generation der jungen Erwachsenen gibt es darüber Frust. Eine der derzeitigen Protestgruppen seien "junge Palästinenser, die sehr enttäuscht sind, was die politische Führung der Fatah angeht, weil keine Strategie und keine Vision zu erkennen ist, inwiefern Unabhängigkeit oder auch eine Verbesserung der Lebensumstände erreicht werden kann", sagt Steven Höfner. Angesichts der mehrfach verschobenen Wahlen durften selbst 33-Jährige im Westjordanland noch nie über ihre politische Führung abstimmen.

Schon als Abbas Ende April die Wahlen absagte, kam es in Ramallah zu Protesten mit vielen jungen TeilnehmendenBild: Mohamad Torokman/REUTERS

Zwischen dieser Bevölkerungsgruppe und der Politik habe eine "komplette Entkopplung" stattgefunden, sagt Höfner: "Die Jugend ist vor allem auf Facebook aktiv, aber auch Dienste wie TikTok und Instagram gewinnen immer mehr an Zulauf. Die Führung allerdings, vor allem die ältere Elite der Fatah und der Palästinensischen Autonomiebehörde, ist dort gar nicht präsent. Sie versuchen wie üblich die Bevölkerung über öffentliche Pressestatements oder ihnen nahestehene Medienhäuser zu erreichen. Aber sie haben keinen Bezug gerade zur jungen Bevölkerung."

Die Hamas hingegen ist in den sozialen Medien aktiv, und auch die verschärfte Situation der palästinensischen Israelis verbreitet sich dort rasant - beidseits der Sperranlagen, die Israel und das Westjordanland voneinander trennen. Ob die zahllosen Posts auch zu einer weiteren Mobilisierung im Westjordanland führen werden, kann im Moment niemand abschätzen. In Ramallah glaubt jedoch KAS-Büroleiter Steven Höfner: "Je länger der Konflikt dauert, desto stärker wird die Hamas werden - weil die Fatah auch von sich aus keine Gegenstrategie hat und keine Alternative zur Auseinandersetzung bereitstellt."

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