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WHO-Schlingerkurs bei radioaktiver Strahlung

6. Mai 2011

Die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation Margaret Chan rückt bei der Bewertung von Nuklearrisiken von der bisherigen Linie ab. Auslöser ist die Heraufsetzung von Strahlen-Grenzwerten in Japan.

Bildmontage Atomkraftzeichen in einem Feld (Foto: styleuneed)
Wann wird radioaktive Strahlung gefährlich?Bild: fotolia/styleuneed

"Es gibt keine ungefährliche Niedrig-Strahlung", erklärte die Generaldirektorin der Wetlgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, bei einem kurzfristig anberaumten Treffen mit Mitgliedern der kritischen "Initiative für eine unabhängige WHO". Bislang hatte die WHO immer die von der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) vorgegebene Position vertreten. Die IAEA behauptet, radioaktive Strahlung unterhalb bestimmter Grenzwerte sei ungefährlich. Die Kehrtwende kommt kurz vor der Generalversammlung der WHO am 16. bis 24. Mai, auf der auch die Zusammenarbeit mit der IAEA ein Thema sein wird.

Erkennt neuerdings auch interne Strahlung als Gefahr an: Margaret ChanBild: AP

Chan bezog sich bei ihrer Aussage auf die interne Strahlung radioaktiver Partikel wie Jod 131, Cäsiums 137, Strontium 90, Plutonium und andere Stoffe, die über Nahrungsmittel, Wasser oder Atemluft in den Körper aufgenommen werden und sich in der Schilddrüse, Knochen oder inneren Organen ablagern und weiterstrahlen. Diese Partikel sind nach zahlreichen Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler, die seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 durchgeführt wurden, verantwortlich für bis zu 95 Prozent aller durch radioaktive Strahlung verursachten Krebsfälle und genetischen Veränderungen.

Die WHO hat diese interne Strahlung bislang negiert. In allen Aussagen zu potentiellen Gesundheitsgefahren hatte sie sich immer nur auf externe radioaktive Strahlung und auf die ersten und einzigen von ihr bislang veranlassten Messungen nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945 bezogen.

Messergebnisse weiter unter Verschluss

Chan distanzierte sich auch von den bisherigen Aussagen der WHO zu den Folgen von Tschernobyl. "Ich persönlich glaube nicht, dass der Nuklearanfall in Tschernobyl nur 50 Todesopfer gefordert hat" erklärte die WHO-Generaldirektorin laut Mitschrift des Gesprächs mit der Kritiker-Initiative. Im Einklang mit der IAEA behauptet die WHO bis heute offiziell, in Folge der Tschernobyl-Katastrophe seien lediglich 52 verstrahlte Personen gestorben und bis zu 6000 weitere an Schildrüsenkrebs erkrankt. Diese Zahlen hat auch die UN-Wissenschaftlerkommission UNSCEAR übernommen und zuletzt im Februar dieses Jahres veröffentlicht.

Unbeschadet der Korrektur bisheriger Positionen beharrte Chan darauf, mit Blick auf die aktuelle Atomkatastrophe in Fukushima "ihre Verantwortung voll wahrgenommen" zu haben "ohne Einschränkung durch das bilaterale Abkommen mit der IAEA von 1959." Chan verteidigte gegenüber den Kritikern auch, dass die WHO bis heute die Messergebnisse zu Fukushima unter Verschluss hält, die sie - und die IAEA - regelmäßig von der internationalen Behörde zur Überwachung des Abkommens über Teststop von Atomwaffen (CTBTO) erhält.

Nur noch eine Strahlenbiologin bei der WHO

Die weltweit 80 Messstellen der CTBTO registrieren rund um die Uhr die radioaktive Strahlung in der Atmosphäre. Die "Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik" (ZAMG) in Wien, die ebenfalls Zugriff auf die Messergebnisse der CTBT0 hat, stellte bereits Ende März einen deutlich höheren Austritt von Radioaktivität aus Fukushima fest, als die japanischen Behörden. Dennoch hatten die WHO und die IAEA bislang die japanischen Angaben übernommen und öffentlich bekannt gemacht.

Wie hoch war die Strahlenbelastung nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima?Bild: AP

Chan erklärte, die WHO würde die CTBTO-Meßdaten "nur veröffentlichen, wenn sie gefährliche Werte anzeigen". Ob das der Fall sei, entscheide sie "allein". Zugleich räumte die Generaldirektorin ein, dass sie "keine Expertin für radioaktive Strahlung" ist und dass die WHO "bei diesem Thema heute fast überhaupt keine eigene Kompetenz mehr hat". Die Abteilung für Strahlenbiologie in der Genfer WHO-Zentrale war vor zwei Jahren auf Druck privater und staatlicher Geldgeber geschlossen worden. Zuvor war der stellvertretende Leiter der Abteilung mit dem Versuch, niedrigere WHO-Grenzwerte für erlaubte Jodbelastung durchzusetzen, am Einspruch der IAEA und Frankreichs gescheitert. Heute gibt es in der Genfer WHO-Zentrale nur noch eine einzige Strahlenbiologin.


WHO kann Erkenntnisse nicht veröffentlichen

Chan sagte der "Initiative für eine unabhängige WHO" zu, sie wolle "untersuchen, was mit den Dokumenten der 2001 gemeinsam mit der IAEA veranstalteten Tschernobyl-Konferenz in Kiew geschehen ist". Bislang behauptet die WHO, die Dokumente seien vollständig veröffentlicht worden. Tatsächlich wurde jedoch nur eine knappe Zusammenfassung veröffentlicht. Auch von den über 700 Dokumenten der ersten, 1995 gemeinsam von WHO und IAEA in Genf durchgeführten Tschernobylkonferenz, wurden bis heute lediglich zwölf veröffentlicht. Das habe die IAEA unter Berufung auf das Abkommen mit der WHO durchgesetzt, bestätigte der damalige WHO-Generaldirektor Hiroshi Nakashima inzwischen in einem Fernsehinterview.

Der offizielle Atomberater der japanischen Regierung, Toshiso Kosak, hatte Ende April sein Amt aufgegeben und unter Tränen vor laufenden Kameras die Entscheidung der Regierung in punkto Grenzwerte beklagt. Er kritisierte sowohl die Anhebung für Arbeiter in Fukushima, als auch den Grenzwert von 20 Millisievert pro Jahr für die Strahlenbelastung von Schülern in der Nähe von Fukushima. Dies sei inakzeptabel - "Ich kann das als Wissenschaftler nicht zulassen". Der Professor war erst im März von Ministerpräsident Naoto Kan zum Regierungsberater ernannt worden.

Konkrete Handlungskonzepte zum Schutz der Bevölkerung liegen zwar letztlich in der Hand nationaler Regierungen - dennoch trägt die 1948 gegründete WHO als UN-Sonderorganisation mit inzwischen 192 Mitgliedsstaaten für die Information und Aufklärung der öffentlichen Gesundheit Verantwortung. Beobachter erwarten, dass die Kündigung des Vertrages mit der Internationalen Atomenergiebehörde auf der bevorstehenden Generalversammlung vom 16. bis 24. Mai eine Rolle spielen wird.

Autor: Andreas Zumach
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning