Wie beeinflussen NS-Menschenversuche die Medizin bis heute?
20. August 2025
Medizinische Zwangsforschung und Menschenversuche gehören zu den dunkelsten Kapiteln der NS-Zeit. Vor allem an Juden, Kriegsgefangenen, Sinti und Roma, Behinderten und anderen diskriminierten Gruppen wurden Krankheitserreger, Giftstoffe und Medikamente getestet. Ihnen wurden Organe entnommen, man ließ sie kontrolliert erfrieren, sie wurden zwangssterilisiert, selektiert und getötet. Das Ausmaß der Gräueltaten ist kaum vorstellbar.
Zehntausende wurden Opfer dieser menschenverachtenden Experimente. Von 16.000 dieser Menschen gibt es nun detaillierte Profile in einer neuen Online-Datenbank. Sie enthält zudem mehr als 13.000 Profile von Menschen, deren Schicksale noch nicht abschließend beforscht sind. Erstmals gibt es so einen systematischen Zugang zu Namen und Lebensdaten von Opfern, zu einzelnen Experimenten und den daran beteiligten Institutionen.
Veröffentlicht wurde die Datenbank von der Wissenschaftsakademie Leopoldina und der Max-Planck-Gesellschaft. Wissenschaftler von deren Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, hatten zur NS-Zeit an Humanpräparaten geforscht, die zweifelsfrei von den Massentötungen stammten.
Rassismus als Rechtfertigung - kaum juristische Konsequenzen
Über 200 Einrichtungen in Deutschland und Europa standen mit medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus in Verbindung. Das ganze Ausmaß der Gräueltaten zeigte ein 2023 erschienener Report, den die Lancet-Kommission für Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust erarbeitet hatte.
Der detaillierte Bericht belegt, dass Mediziner in unterschiedlichen Funktionen mit dem Verweis auf die "Rasse"-Zugehörigkeit die Taten rechtfertigten und in erheblichem Umfang Zwangssterilisierungen, Euthanasie-Programme und Selektionen umsetzten. Nur wenige Mediziner und Forschende wurden nach dem Krieg für ihrer Taten zur Verantwortung gezogen.
NS-Spuren bis in die Gegenwart
Nach dem Krieg setzten manche Wissenschaftler und Institutionen ihre Arbeit relativ unbehelligt fort. Prominente Vertreter aus der NS-Medizin, zum Beispiel an der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, konnten nach 1945 in der Bundesrepublik weiterarbeiten. Auch in der Luftfahrt- und beim Aufbau des weltraummedizinischen Programms der NASA sei auf die Expertise von Personen zurückgegriffen worden, die ihre Erkenntnisse auch aus KZ-Experimenten bezogen hatten, so Medizinhistoriker Prof. Dr. Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien, der die Lancet-Kommission für Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust maßgeblich mit initiiert hatte.
Besonders in der Nachkriegszeit wurden einige der im Nationalsozialismus erhobenen Daten unreflektiert übernommen, auch weil über die Umstände der Versuche selten gesprochen wurde oder die Herkunft der Daten verschleiert wurde. Daten beispielsweise zur Kältetoleranz, Sulfonamid-Antibiotikum-Behandlungen oder der Wirkung von Phosgengas, die von Menschenversuchen stammten, wurden nach dem Krieg in medizinischen Fachzeitschriften publiziert, mehrfach weiter zitiert und benutzt.
Phosgen ist ein Atemgift, das im Ersten Weltkrieg als chemischer Kampfstoff eingesetzt wurde. Die Ergebnisse der NS-Kampfstoffforschung wurden in den 1980er Jahren in den USA wieder aufgegriffen, fand der Wissenschaftshistoriker Florian Schmaltz heraus. "Noch 1988 schlugen Wissenschaftler der US-Umweltschutzbehörde vor, die Ergebnisse von Otto Bickenbachs Phosgenexperimenten an Häftlingen im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof als Grundlage für neue Tierversuche im Zusammenhang mit Vorschriften zur Phosgenbelastung zu verwenden – ein Plan, der erst nach Protesten einer Gruppe ihrer Kollegen innerhalb der Behörde aufgegeben wurde", so Prof. Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in Boston gegenüber der DW.
Sehr späte Aufarbeitung
Teile der Humangenetik, der Psychiatrie und der medizinischen Anthropologie griffen ebenfalls methodisch auf Praktiken zurück, die im Nationalsozialismus entwickelt und angewandt wurden. "Eine verhältnismäßig hohe Kontinuität gab es im Gebiet der Anatomie und der Neuropathologie, weil in der NS-Zeit große neuropathologische Sammlungen erstellt worden sind, auf die sich die Forschung noch lange nach dem Krieg bezogen hat", sagt Prof. Czech.
Der "wissenschaftliche Erkenntniswert" dieser menschenverachtenden Untersuchungen halte sich zwar in Grenzen und spiele angesichts des inzwischen erfolgten wissenschaftlichen Fortschritts faktische keine Rolle mehr, so der Medizinhistoriker.
Doch Präparate aus der NS-Zeit wie Gewebeproben, Organpräparate oder Hirnschnitte von Opfern wurden noch Jahrzehnte nach 1945 in deutschsprachigen Forschungsinstituten und für die Lehre verwendet. Eine systematische Revision und Bestattung fand vielfach erst ab den 1980er- und 1990er-Jahren statt, nachdem politischer und gesellschaftlicher Druck aufgebaut wurde. Ein bekanntes Beispiel ist die Aufarbeitung der Sammlungen an verschiedenen Standorten der Max-Planck-Gesellschaft, die erst 1997 begann.
Bewussterer Umgang mit der Vergangenheit
Zwei seien die meisten Techniken und Daten aus der NS-Zeit kaum mehr aktuell und würden daher zumindest nicht aktiv angewendet, so die Anatomin Hildebrandt. "Das bedeutet jedoch nicht, dass Erkenntnisse aus dieser Forschung nicht in das allgemeine medizinische Wissen eingeflossen sind und weiterwirken, zum Beispiel in Lehrbüchern der einzelnen medizinischen Disziplinen."
Auch wenn heute eine kritische Reflexion und ethische Debatte über den Umgang mit diesen Erkenntnissen in der Medizin und Forschung Standard sei, brauche es weiterhin mehr Bewusstsein darüber, in welchem Kontext die Daten und Erkenntnisse in einzelnen wissenschaftlichen Publikationen stamme, so Hildebrandt. "Kennzeichnung und Kontextualisierung allein reichen ohnehin nicht, sondern sie müssen durch Nennung der Opfer, deren Biografie und Leiden ergänzt werden."
Modellcharakter auch für andere Länder?
Medizinische Zwangsforschung und Menschenversuche wurden nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch davor und danach weltweit – besonders in kolonialen Zusammenhängen – durchgeführt. Aber eine kritische Auseinandersetzung hat es oftmals nicht oder nur unzureichend gegeben. "Das ist ja einer der Gründe, warum die Lancet-Kommission gegründet wurde: Die Medizin im Nationalsozialismus stellt das am besten erforschte und bislang extremste Beispiel medizinischer Grenzüberschreitungen unter Bedingungen von Unrechtsregimen dar", sagt Hildebrandt.
Einzelne Länder, vor allem mit Kolonialgeschichte, stellen sich dieser Verantwortung. Andere Länder wie etwa Japan, das ebenfalls medizinische Gräueltaten und Menschenversuche an Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung in China, Korea und anderen besetzten Gebieten verübte, bislang nicht.
"Andere Länder und Zeiten haben andere Geschichten, die oft noch genau erforscht werden müssen, um den Einfluss auf die Gegenwart deutlich zu machen", so Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in Boston. "Hier in den USA gibt es endlich mehr Forschung zur Geschichte von Medizin und Sklaverei, doch unsere gegenwärtige Regierung versucht das jetzt wieder rückgängig zu machen."
Der Artikel wurde am 21.08.25 aktualisiert