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PolitikUkraine

Wie Brüssel die Kursk-Offensive der Ukraine bewertet

17. August 2024

Kiew hat seine Militärstrategie geändert und ist auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen. Wird das Vorgehen die Haltung der EU gegenüber der Ukraine verändern? Wie schätzt Brüssel die neue Lage ein?

Die Flaggen der EU und der Ukraine | Symbolbild
Bild: Bogdan Hoyaux/European Union | CC BY 4.0

Es ist Sommerpause und viele Europaabgeordnete und Mitarbeiter der Europäischen Union sind im Urlaub. Auch das Hauptquartier der NATO macht offiziell Pause - es hat bislang keine Erklärung zur jüngsten Militäroffensive Kiews Richtung Kursk abgegeben. Die nächste Beratung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine ist für Ende August geplant, wenn die Außen- und Verteidigungsminister von 27 EU-Staaten zu einem informellen Treffen in Brüssel zusammenkommen. Die Experten, Politiker und EU-Beamten, mit denen die DW sprechen konnte, sind sich einig, dass die ukrainische Offensive in den russischen Gebieten Kursk und Belgorod positiv zu sehen ist.

Vor allem ein politischer Erfolg Kiews

"Die allgemeine Bewertung dessen, was die ukrainischen Streitkräfte erreicht haben, ist positiv, nicht so sehr in militärischer Hinsicht, sondern vor allem in politischer", findet der Berichterstatter des Europäischen Parlaments für Russland, Andrius Kubilius. Die Ukraine habe die Initiative ergreifen können, dem Kreml sein eigenes Versagen vor Augen geführt und dem Westen bewiesen, dass eine Eskalation seitens des Kremls nicht zu befürchten sei.

Andrius Kubilius, Berichterstatter des Europäischen Parlaments für RusslandBild: Europäische Union

Die ukrainische Offensive ist nach Ansicht der Partner Kiews ein Erfolg, weil die Ukraine nach einer langen Pause ihre Fähigkeiten wieder unter Beweis stellen konnte. Das meint der Sicherheitsexperte Roland Freudenstein von der Brüsseler Advocacy-Plattform "Freedom Hub". "Ich bin beeindruckt davon, wie die Ukraine es schafft, aus einer wahrgenommenen Unterlegenheit plötzlich die Initiative zu ergreifen und Russland und Wladimir Putin auch persönlich in die Defensive zu bringen", so Freudenstein.

Es sei aber noch zu früh, die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld zu bewerten, warnt Amanda Paul von der Brüsseler Denkfabrik "European Policy Centre". Sie spricht von einem "mutigen und kühnen Schritt" Kiews. Dieser habe "Putin überrascht, sein Ansehen beschädigt und gleichzeitig die Moral der ukrainischen Truppen und Bürger gestärkt".

Position der Europäischen Union unverändert

Dennoch wird seitens der EU darauf hingewiesen, dass Kiews Vorgehen ausschließlich der Verteidigung der Souveränität und Sicherheit der Ukraine dienen dürfe. Das betont eine offizielle EU-Vertreterin in einem informellen Gespräch mit der DW.

"Putin konnte den Widerstand der Ukrainer gegen seine ungerechtfertigte Invasion nicht brechen und sieht sich nun gezwungen, sich auf russisches Territorium zurückzuziehen", schreibt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im sozialen Netzwerk X. In einem Telefongespräch mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba bestätigte er, dass die EU den Kampf des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression uneingeschränkt unterstütze.

Dies zeigt, dass die EU ihre Strategie gegenüber der Ukraine auch nach der ukrainischen Kursk-Offensive nicht geändert hat. EU-Sprecher Peter Stano weist darauf hin, dass die Ukraine im Rahmen ihres Rechts auf Selbstverteidigung den Feind angreifen dürfe, "wo immer sie es für richtig hält: sowohl auf ihrem Territorium als auch auf dem des Feindes".

Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und SicherheitspolitikBild: Nicolas Economou/NurPhoto/picture alliance

Wenn die Außen- und Verteidigungsminister der 27 EU-Länder Ende August auf ihrem informellen Treffen ihre Haltung äußern werden, könnten möglicherweise Differenzen bezüglich der EU-Position zur ukrainischen Gegenoffensive zu Tage treten, doch Entscheidungen werden dort nicht erwartet. Amanda Paul meint, die jetzigen Reaktionen in Brüssel würden deutlich machen, dass man sich im Klaren sei, dass Russland die Gebiete Kursk und Belgorod für Angriffe auf die Ukraine nutze, darunter auch auf zivile Infrastruktur.

Offensive als Selbstverteidigung

Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj habe es seit Sommeranfang von der Region Kursk aus etwa 2000 Angriffe mit verschiedenen Waffentypen auf die ukrainische Region Sumy gegeben. Die ukrainischen Truppen würden nun russische Nachschublinien abschneiden und Gebiete besetzen, von denen aus die Ukraine ständig angegriffen werde, so Freudenstein. Putin erlebe nach dem Anschlag auf die Veranstaltungshalle "Crocus City Hall" in Moskau im März dieses Jahres nun zum zweiten Mal "eine riesengroße Sicherheitsschlappe in den Augen der Russinnen und Russen." 

Bei ihrem Einsatz in der Region Kursk trügen die ukrainischen Streitkräfte Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung, betont auf Anfrage der DW ein Sprecher der EU-Kommission für Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei müssten alle möglichen Vorkehrungen getroffen werden, um die Auswirkungen der Kämpfe auf Zivilisten so gering wie möglich zu halten. Brüssel erinnert daran, dass die Ukraine dabei ihren allgemeinen Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht nachkommen müsse.

Verkehrsschild an der russisch-ukrainischen GrenzeBild: Evgeniy Maloletka/AP Photo/picture alliance

"Wir haben keine Informationen erhalten, die auf etwas anderes hinweisen würden", so die EU-Kommission. Sie begrüßt auch Selenskyjs öffentliche Anordnung zur humanitären Hilfe für Bewohner, die von dem Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte auf russischem Territorium betroffen sind. Am 12. August beauftragte Selenskyj den Innenminister, andere Regierungsmitglieder und den Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU), einen "humanitären Plan" für das Gebiet zu erarbeiten, in dem die Operation läuft.

Unterschiedliche Kriegsführung

Selenskyj mache ferner deutlich, dass nun die Russen selbst sehen könnten, wie sich der Krieg anfühle. "Das ist ein wichtiges Element in der Aktion, auch in den Augen der ukrainischen Bevölkerung, nicht nur der politischen Führung", meint Roland Freudenstein. Ihm zufolge bemüht sich die Ukraine, zivile Opfer zu vermeiden. "Sie versucht, militärische Ziele zu erreichen, aber dabei entstehen natürlich zivile Schäden. Das ist fast unvermeidbar. Was die Ukraine weiterhin nicht macht, ist, Raketen auf Einkaufszentren abzufeuern. Das hat Russland mehrfach gezielt getan. Auch die Energieinfrastruktur, die für die Zivilbevölkerung entscheidend ist, wird von den Ukrainern in Ruhe gelassen. Ich sehe große Unterschiede in der Art der Kriegsführung und in der Bedeutung, die die Vermeidung ziviler Opfer hat", sagt Freudenstein.

Die von der DW befragten Experten geben zu bedenken, dass die Entscheidung der Ukraine, auf russisches Territorium vorzudringen, die größte "rote Linie" von allen überschritten habe, die ihre westlichen Partner aus Angst vor einer Eskalation seitens des Kremls gezogen hätten. Amanda Paul zufolge zeige die eher zurückhaltende Reaktion Moskaus, dass jene "roten Linien" Unsinn seien. "Alle Beschränkungen, die die Ukraine daran hindern, weitreichende Angriffe auf militärische Ziele in Russland durchzuführen, müssen aufgehoben werden, und die Ukraine muss alle dafür notwendigen Waffen erhalten. Für die ukrainischen Streitkräfte ist es von entscheidender Bedeutung, die russische Infrastruktur und Einrichtungen militärischer und anderer Art zu zerstören, die zu diesem Krieg beitragen", so Paul.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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