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Politik

Wie Corona Deutschland verändert hat

Kay-Alexander Scholz
6. Mai 2020

100 Tage nach dem Ausbruch von COVID-19 in Deutschland lässt sich bilanzieren: Die Bundesrepublik kam bislang vergleichsweise glimpflich durch die Coronavirus-Pandemie.

Deutschland Düsseldorf | Coronavirus | Hochzeit im Autokino
Bild: picture-alliance/dpa/Revierfoto

Ein einziger Zahlenvergleich spricht Bände: In Deutschland gab es in den 100 Tagen im Durchschnitt rund acht Todesfälle durch COVID-19 auf 100.000 Einwohner. In den USA liegt die Todesrate bei 20, im Vereinigten Königreich bei 43 und in Spanien bei 54 Personen.

Der Schutz der Bevölkerung sei in Deutschland bislang recht gut gelungen, bilanziert Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts, den bisherigen Verlauf der Pandemie. Das Institut ist eine Art nationale Gesundheitsbehörde, dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt. Im Vergleich zu anderen Ländern habe Deutschland früh auf die Infektionen reagiert, so Wieler, und nicht erst, als es schon sehr viele Infizierte gab. Frühe Maßnahmen seien besonders wirksam gewesen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Medien und auch in ihrer CDU vor der Krise oft schon als "lame duck" abgeschrieben, nahm die Pandemie frühzeitig ernst. Sie wandte sich eindringlich in TV-Ansprachen an die Bürger, machte Pressekonferenzen beinahe zu Bürgersprechstunden und erklärte - als studierte Naturwissenschaftlerin - mühelos, was es mit den Grafiken, Kurven und Zahlen der Pandemie auf sich hat.

Während andere Staatschefs, so wie Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, COVID-19 als Grippe herunterspielten, führte Merkel das Land zielgerichtet nach und nach in einen "Lockdown" und koordinierte die für das föderale System nicht immer einfachen Absprachen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Im Ausland gab es viel Lob für den deutschen Weg und die Kanzlerin.

Drei Gesichter der Krise: RKI-Präsident Wieler, Gesundheitsminister Spahn, Kanzlerin MerkelBild: Imago Images/photothek/F. Zahn

Parallel dazu stellte die Bundesregierung milliardenschwere Hilfen bereit. Das Geld war da. Anders als Italien oder Spanien hatte Deutschland seit Jahren Überschüsse erwirtschaftet. Auch die Bundesagentur für Arbeit saß auf einem Polster von 28 Milliarden Euro, mit dem zum Beispiel das schon in anderen Krisen bewährte System der Kurzarbeit finanziert wird.

Gesundheitssystem fit gemacht

Daneben wurde das Gesundheitssystem auf steigende Patientenzahlen vorbereitet. Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich sowieso schon gut mit Intensivbetten ausgestattet ist, wurde noch kräftig aufgestockt. Die Kliniken erhielten Ausfallprämien, wenn sie Betten für COVID-19-Patienten reservierten und auf andere Operationen verzichteten. Es wurde ein landesweites Register aufgebaut. In den täglichen Berichten des Robert Koch-Instituts war nachzulesen, wie viele Intensivbetten belegt waren oder frei.

Deutschland konnte schnell seine Test-Kapazität hochfahrenBild: picture-alliance/dpa/S. Albrecht

Früh wurden auch Testkapazitäten ausgebaut. Dabei erwies sich die dezentrale Struktur des Gesundheitssystems als Vorteil - mit zentralen Richtlinien, aber lokal mit Planungs- und wirtschaftlicher Freiheit. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte dazu, er sei erleichtert, die Last der Entscheidungen nicht allein schultern zu müssen, sondern auf die Mithilfe der Minister der Bundesländer und die Arbeit der gut 400 Gesundheitsämter in den Kommunen bauen zu können. Das sei gegenüber zentralistischen Staaten ein Vorteil.

Warum Disziplin Fluchtmöglichkeiten braucht

Auch der Meinungsforscher, Buchautor und Regierungsberater Stephan Grünewald findet, dass Deutschland im internationalen Vergleich bislang gut durch die Krise gekommen ist. Eines seiner Bücher befasst sich mit typischen Eigenschaften der Deutschen. Davon sei jetzt wieder eine wichtig geworden: "Typisch deutsch ist ein hohes Maß an Diszipliniertheit", bestätigt Grünewald ein gängiges Klischee. Zudem seien die Bürger schnell dabei, sich persönlich eine neue Alltagsstruktur zu geben. Ähnlich habe sich die Politik verhalten und "strukturiert die Anforderungen abgearbeitet".

Stephan Grünewald weiß, wie die Deutschen ticken - auch in der KriseBild: Maya Claussen

Doch das sei nur die eine Seite der Medaille. Die Deutschen seien einerseits das Land der Bürokratien und damit der Reglementierung, so Grünewald, andererseits aber auch Reiseweltmeister. "Wir können es mit uns selber nur aushalten, wenn wir die Fluchtmöglichkeit der Reise haben - das hat sich jetzt in Spaziergänge oder in kleine Shopping-Trips verwandelt." Das sei den Menschen sehr wichtig, um diszipliniert sein zu können. In Spanien, Italien oder Russland durften die Bürger kaum vor die Tür. Diesen Weg ging die Politik in Deutschland nicht, sondern ließ - bei verordnetem Mindestabstand, Hygiene-Regeln und Kontaktbeschränkungen - temporäre Fluchtmöglichkeiten zu.

Aufwind für die CDU

Umfragen haben gezeigt, dass eine große Mehrheit die Maßnahmen mittrug. Dieses Bild änderte sich in den ersten Wochen kaum. Sichtbar wurde dies auch durch eine enorme Steigerung der Zustimmungsraten für die regierenden Unionsparteien (CDU und CSU) von rund zehn Prozentpunkten! Werte von zuletzt knapp 40 Prozent hatten diese seit Jahren nicht mehr erreicht.

In jüngster Zeit aber bröckelt die allgemeine Zustimmung. Die Oppositionsparteien kritisieren das Vorgehen der Regierung, schaffen es so in die Schlagzeilen und heizen eine Debatte darüber an, ob der "Lockdown" zu streng und für die Wirtschaft zu schädlich sei.

Flugzeuge am Boden: Die Reisebranche leidet besonders unter der Corona-KriseBild: picture-alliance/dpa/P. Kneffel

Einzelne Bundesländer sind ausgeschert und haben eigene Lockerungen beschlossen. Die Experten vom Robert Koch-Insitut unterstützen das. Vor Ort wisse man am besten, was leistbar sei, damit die Fallzahlen nicht wieder anstiegen, so Präsident Wieler.

Neue Erfahrungen für die Bürger

Nach dem nationalen Schulterschluss zu Beginn der Krise gebe es nun eine zunehmende Polarisierung auch zwischen den Bürgern, erklärt Grünewald. Das von ihm geführte Rheingold-Institut untersucht derzeit in einer Studie Krisengewinner und -verlierer. Einige hätten sich ganz gut in der neuen Situation eingerichtet, andere sähen sich in einer Art "Vorhölle". Rivalitäten, Neid und Gerechtigkeitsfragen würden nun wieder spürbarer. In einigen Städten wie in Berlin gibt es inzwischen Straßenproteste - mit dabei: Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und auch politische Extremisten.

Manche Restaurants bieten jetzt Speisen zum Mitnehmen anBild: DW/D. Dragojevic

Doch im Großen und Ganzen erlebte man in den vergangenen Wochen ein diszipliniertes Land, dessen Bürger teils sehr kreativ auf eine radikale Entschleunigung reagierten. Hilfe-Portale für Ältere und Kranke sind entstanden. Restaurants bieten Speisen "To-go" an - vom Schnitzel bis zum Cocktail. Nachbarn, die sich sonst nur flüchtig grüßten, plauschen plötzlich im Hausflur miteinander. Sonst von vielen als banal angesehene Dinge wie Spazierengehen, Gärtnern oder Brettspiele erlebten ein Revival, sagt Grünewald. Die Erfahrung, dass man auch mit weniger auskommen kann, werde - so seine Prognose - wohl auch nach der Krise lebendig bleiben.