Gelsenkirchen wählt blau - Die AfD ist auch im Westen stark
26. Februar 2025
Zwischen dem Hype um "Swiftkirchen" und der Beschimpfung als "Shithole City" liegen nur wenige Wochen: Gelsenkirchen in den internationalen Schlagzeilen. Viele blickten nach "Swiftkirchen", als sich die Stadt wegen drei Konzerten des US-amerikanischen Superstars Taylor Swift augenzwinkernd umbenannte und sogar 35 Ortsschilder mit dem neuen Namen aufstellte.
Was für ein Kontrast: "Shithole", ein Drecksloch, hatte der englische Fußball-Fan Paul Brown die Stadt kurz vorher zu Beginn der Europameisterschaft in einem Video genannt. Später entschuldigte er sich wortreich und lobte die tollen Menschen in der Stadt, aber da war es schon zu spät. Die Klischees über Gelsenkirchen waren in der Welt: eine abgehängte Stadt in Westdeutschland, mit vielen Müllbergen, mit leerstehenden und maroden Wohnungen, das Armenhaus Deutschlands.
Tatsache ist: In Gelsenkirchen lebt jeder vierte Erwerbstätige von der Grundsicherung, das Durchschnittseinkommen ist mit nicht einmal 18.000 Euro das niedrigste in ganz Deutschland, die Arbeitslosenquote mit über 14 Prozent dagegen die höchste.
Es ist eine Stadt, in der zunehmend frustrierte Wähler, die früher treu ihr Kreuz bei der Arbeiterpartei SPD gemacht haben, jetzt auch die AfD wählen. Bei der Bundestagswahl wurde die in Teilen rechtsextreme Partei mit 24,7 Prozent stärkste Kraft. Gelsenkirchen ist neben Kaiserslautern die einzige Stadt im Westen, in der die AfD die meisten Zweitstimmen erzielte.
Strukturwandel: "Man muss Mut haben, sich zu verändern"
Im Nordsternpark der Stadt kämpft ein früherer Bergmann gegen diesen Trend. Wenn jemand für die Geschichte Gelsenkirchens steht und sie versteht mit Höhen und Tiefen, dann ist es Reinhold Adam. Der 79-Jährige hat schon als Jugendlicher unter Tage geschuftet, eine Lehre zum Bergmann gemacht und später als Zechenelektriker gearbeitet. Auf dem früheren Gelände der Zeche Nordstern bietet er heute Führungen an. Besucher und Besucherinnen kommen sogar aus Kanada, Japan oder Australien. Seine Geschichten von der Solidarität der Kohlekumpel rühren viele zu Tränen, berichtet er der DW: "Bei meinen Führungen spüren sie die Seele des Bergbaus, sagen sie mir."
Adam gehört zu denen, die die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für seine Stadt Gelsenkirchen nicht aufgegeben haben: "Nordstern ist das beste Beispiel dafür, dass Strukturwandel funktionieren kann. 1997 fand hier im Park die Bundesgartenschau statt, mit insgesamt 1,6 Millionen Besuchern, in zwei Jahren kommt die Internationale Gartenausstellung hierher. Nordstern lebt weiter, aber in einer anderen Form. Man muss den Wandel akzeptieren, positiv nach vorne schauen und den Mut haben, sich zu verändern."
Strukturwandel - das heißt in Deutschland: Die Kohle ist Geschichte, Dienstleistungen, Bildung und kreative Projekte sind die Zukunft. So wie im Nordsternpark: Auf der 100 Hektar großen früheren Industriefläche lockt heute eine riesige grüne Landschaft Jahr für Jahr 200.000 Besucher an - sie nutzen Klettergarten, Amphitheater und den Förderturm der stillgelegten Zeche mit seiner Aussichtsplattform in 83 Metern Höhe.
Die Menschen seien beim Panoramablick vom Turm erstaunt, wie grün Gelsenkirchen sei, berichtet Adam stolz. Dass hier die AfD punktet, die versucht, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte gegeneinander auszuspielen, kann der frühere Bergmann nicht begreifen: "Solidarität war immer die Stärke der Menschen im Ruhrgebiet, unter den Bergleuten war sie ja sogar lebensnotwendig. Doch die ist leider verloren gegangen. Wo man früher nach Lösungen suchte, geht es heute erstmal darum, einen Schuldigen zu finden." Adams Appell: "Wir können nicht immer nach der Stadt und dem Staat rufen, sondern müssen uns selbst bewegen."
Von der Wirtschaftswunderstadt zum Armenhaus
Es braucht wohl mehr Menschen wie Reinhold Adam, um das Negativ-Image Gelsenkirchens abzustreifen. Oberbürgermeisterin Karin Welge arbeitet seit fünf Jahren daran, sie hat einen der vielleicht schwierigsten Oberbürgermeisterjobs im Land. Der DW sagt sie: "Gelsenkirchen hat eine Geschichte, wie sie keine andere deutsche Stadt hat. Diese Stadt ist unendlich schnell reich und prosperierend geworden. Und dann kam dieser Strukturbruch mit seiner extremen Wucht: Vor 1960 hatten wir knapp 400.000 Einwohner. Im Zuge des Strukturwandels hat diese Zahl massiv abgenommen auf 258.000 Einwohner zu Zeiten der Finanzkrise. Die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist verlorengegangen."
Zur Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren boomte die Stadt, lockte scharenweise sogenannte Gastarbeiter aus Polen, Italien und der Türkei an und stieg zur wichtigsten Kohlestadt Europas auf. 2008 stellte mit der Zeche Westerholt das letzte Bergwerk Gelsenkirchens seine Förderung ein. Mit der Stadt ging es bergab. Gelsenkirchen geht es wie vielen deutschen Städten, die finanzielle Situation ist dramatisch, es ist kein Geld da. Ein Thema, das im deutschen Bundestagswahlkampf fast keine Rolle spielt.
Der Geldmangel bremst die Oberbürgermeisterin aus: "Du bekommst vom Land gesagt, Du darfst nur so und so viel ausgeben, Du darfst in der Verwaltung keine Menschen zusätzlich beschäftigen und du darfst nicht mehr investieren. Dabei sind gerade dort, wo etwas brüchig wird, Investitionen notwendig. Als ich 2011 als Stadträtin bei der Stadt anfing, durften wir 17 bis 18 Millionen für ganz Gelsenkirchen investieren." Das Geld reiche heute nicht einmal für eine kleine Schule: "Seit den 1970er Jahren ist hier keine Schule gebaut worden."
AfD profitiert von den Problemen der Stadt
Welge sagt, sie habe drei Probleme: 80.000 verlorene Jobs, keine neuen Stellen und kaum Mittel für Bildung. Nach der EU-Osterweiterung 2007 seien oft bildungsferne Menschen aus Bulgarien und Rumänien zugewandert. Ihre Integration sei bislang größtenteils gescheitert. Mit Folgen für die Politik: Die Zeiten, in denen die SPD als Interessenvertreterin der Bergarbeiter 60 Prozent bei Wahlen abräumte, sind Vergangenheit. Die Krisenstimmung nutzt die AfD.
Welke, selbst SPD-Mitglied, berichtet: "Da sagen Bürger, das ist nicht mehr mein Gelsenkirchen, ich fühle mich nicht mehr zu Hause. Die Formel, die jahrelang die Stadt ausgemacht hat, ein Schmelztiegel gelungener Integration zu sein und eine gute Zuwanderungsgeschichte zu erzählen, die verkehrt sich dann relativ schnell ins Gegenteil. Und ist ein Einfallstor für radikale Kräfte, die sagen: 'Du, Oma, hast keine Rente, und diese 'Migranten' zocken uns hier ab'."
Vom "No-go" zum "To-go": Kreativquartier Bochumer Straße
In der Bochumer Straße im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf kämpfen sie erfolgreich gegen diese Stereotype an. "Die Bochumer", wie sie hier alle nennen, galt früher als Inbegriff einer "No-go-Area": verrottete und verwahrloste Bauruinen, Clan-Kriminalität, immer mehr Menschen verließen entnervt das Viertel. Doch wer heute über die Bochumer Straße geht, kann zwischen den Cafés, Galerien und einer zu einer Event-Location umfunktionierten Kirche das Gefühl haben, in einem hippen Stadtteil von Berlin gelandet zu sein.
Kerstin Pütz sagt mit einem Lachen, sie hätte sich wie die letzte Mohikanerin gefühlt, weil sie nicht wegzog und an das Potenzial des Viertels glaubte. Heute führt sie, zusammen mit Kirsten Lipka, Interessierte immer am ersten Freitag im Monat durch das sogenannte Modell- und Kreativquartier. Viele Menschen haben ehrenamtlich angepackt, die Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen und das Bundesland Nordrhein-Westfalen haben mit Fördergeldern und dem Kauf von Immobilien das Viertel zu neuem Leben erweckt.
"2016 war der Höhepunkt des Untergangs, zumindest in der medialen Berichterstattung", sagt Pütz der DW. Lipka ergänzt: "Heute ziehen sogar Studierende aus Köln hierhin, weil sie dort keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Auch aus Berlin sind Menschen zurückgekommen, die sagen, dort hat es uns nicht mehr gefallen. Ückendorf dagegen hat noch eine gewisse Unschuld."
Die Aufbruchstimmung, die von der Bochumer Straße ausgehe, und die Offenheit, welche die Menschen hier ausstrahlten, widerspreche dem Ansatz, den die AfD verfolgt, sagen sie hier. Doch klar ist auch: Die Erfolgsstory der "Bochumer", die von der Rechtsaußen-Partei sehr kritisch beäugt wird, lässt sich nicht auf ganz Gelsenkirchen übertragen.
Für den gebürtigen Gelsenkirchener Frank Eckardt, der heute als Stadtforscher an der Bauhaus-Universität in Weimar lehrt, ist Ückendorf trotzdem ein Glücksfall, sagt er der DW: "Es herrschte hier jahrzehntelang eine sehr starke Resignation. Man hatte das Gefühl, hier wird nichts gemacht, wir sind pleite. Allein schon psychologisch ist es für die Menschen sehr wichtig, jetzt hier einen Ort zu haben, wo man sieht, es passiert was."
Das sei aber erst der Anfang: "An dem Punkt, dass die Leute sagen, warum soll ich aus Gelsenkirchen weggehen, hier ist es doch auch cool, sind wir noch nicht."
Dieser Bericht erschien am 21.Februar vor der Bundestagswahl und wurde am 26.Februar aktualisiert.