1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie demokratisch kann ein Orchester sein?

Reiner Schild
28. August 2025

Der Dokumentarfilm "Die Haydn Expedition" erzählt die Geschichte von künstlerischer Freiheit und demokratischem Handeln. Jetzt wurde der Film der Deutschen Welle bei einem besonderen Event in Hamburg präsentiert.

Die Mitglieder der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit ihrem Künstlerischen Leiter Paavo Järvi stehen mit ihren Instrumenten auf einer Treppe vor einem Gebäude.
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit ihrem Künstlerischen Leiter Paavo JärviBild: Julia Baier

Ist es Zufall, dass an diesem Abend der zweite Satz aus Joseph Haydns Streichquartett Op. 76, Nr. 3 von Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen(DKB) vorgetragen wird? Nein - und das mindestens aus zweierlei Gründen. Erstens geht es in dem Dokumentarfilm "Die Haydn Expedition", der in der Halle 424 im Hamburger Hafen gezeigt wird, um dieses Orchester und den großen Komponisten der Wiener Klassik. Und zweitens war die Melodie aus dem Quartett-Satz die musikalische Vorlage für die deutsche Nationalhymne, in der es gleich zu Beginn "Einigkeit und Recht und Freiheit" heißt - allesamt wichtige Merkmale einer Demokratie.

Ein Ensemble der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen spielt Werke von Joseph HaydnBild: Axel Martens

Und genau das ist das Thema der Veranstaltung, zu der die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen eingeladen hat und zu dem es ein hochkarätig besetztes Podiumsgespräch gibt: klassische Musik und demokratisch geführtes Unternehmertum. Die DKB gilt für viele in diesem Bereich als Vorbild, denn sie ist demokratisch organisiert und finanziell unabhängig. Für Albert Schmitt, Managing Director des Orchesters, ist das neben der Virtuosität der 41 Musiker ein Erfolgsrezept des Orchesters: "Die demokratische Vorgehensweise schafft die Grundlage dafür, dass jeder einzelne Musiker sich maximal mit dem Orchester identifiziert. Jeder hat seine Stimme, jeder hat die Möglichkeit, sich einzubringen, und jeder ist dadurch auch permanent motiviert, Höchstleistungen zu vollbringen."

Von der "Müslitruppe" zum Profiorchester

1980 wird das Orchester von Musikstudenten mit dem Anspruch gegründet, alle Entscheidungen basisdemokratisch zu treffen. Welche Stücke spielen wir? Welcher Dirigent arbeitet mit uns? Welche Musiker nehmen wir in unsere Gruppe auf? Alle haben ein Mitspracherecht. "Wir haben die Demokratie mit der Muttermilch aufgesogen, weil wir einen Weg gesucht haben, wie wir ein Orchester so strukturieren können, dass es den Musikern gehört, dass die Musiker die Eigentümer sind und auch bleiben", so Schmitt. Was anfangs als "Müslitruppe" belächelt wird und wie eine Wohngemeinschaft wirkt, professionalisiert sich über die Jahre.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen wurde für ihr Haydn-Projekt mit einem Opus Klassik und einem Gramophone Award ausgezeichnetBild: Julia Baier

1999 entscheiden sich die Musiker, das Orchester in ein Unternehmen umzuwandeln. Als Gesellschafter der neu gegründeten GmbH sind sie jetzt nicht nur für die künstlerische, sondern auch für die wirtschaftliche Seite verantwortlich. Das bedeutet, dass sich die DKB im Gegensatz zu den 129 öffentlich finanzierten Orchestern in Deutschland fast komplett selbst finanzieren muss. Über den Verkauf von Tickets und Tonträgern sowie Sponsoringerlösen erwirtschaftet sie heute rund 75 Prozent der Einnahmen. Der Rest sind staatliche Subventionen. Die Musiker werden nicht tariflich bezahlt, so wie ihre angestellten Kollegen, sondern leistungsbezogen. Dafür ist das Orchester unabhängig und kann alles demokratisch entscheiden.

Liebe auf den ersten Blick

Doch Demokratie kann auch zäh und anstrengend sein. Bratschistin Friederike Latzko, von Anfang dabei, erinnert die Zusammenarbeit manchmal an den Stress in einer Beziehung: "Natürlich hat jeder bei uns eine eigene Meinung, vor allem, wenn es um künstlerische Entscheidungen geht. Dann wird intensiv diskutiert und man denkt, dass alles viel schneller gehen müsste, aber die schnelleren Prozesse sind nicht immer die besseren. Am wichtigsten ist, dass alle Musiker mitgenommen werden und dass das Ergebnis am Ende stimmt."

Paavo Järvi hat 2004 einen Grammy Award gewonnenBild: GAETAN BALLY/KEYSTONE/picture alliance

Top-Dirigenten werden engagiert, die Programme sind anspruchsvoller, die Auftrittsorte internationaler. 2004 kann die DKB den estnischen Dirigenten Paavo Järvi als künstlerischen Leiter gewinnen. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt Paavo Järvi. Der Dirigent schätzt von Anfang an die Arbeitsweise und die Strukturen des Orchesters. So wie ihm gehe es den Musikern auch um Verantwortung: "In einem normalen Orchester haben Musiker Rechte. Aber in der Deutschen Kammerphilharmonie haben sie Rechte UND Verantwortung." Mit Järvi am Pult avanciert die DKB zu einem der besten Orchester der Welt. Heute sind die Musiker und ihr Dirigent berühmt für ihre Präzision, ihre Transparenz und ihr demokratisches Miteinander.

Die Freiheit der Kunst

Das zeigt auch der Film "Die Haydn Expedition" von Regisseur Christian Berger, eine Produktion der Deutschen Welle in Zusammenarbeit mit dem NDR.  Berger dokumentierte für die Deutsche Welle bereits drei Großprojekte des Orchesters: "Das Beethoven-Projekt", "Schumann at Pier2" und "Der Brahms Code". Die Musiker und ihr Dirigent hatten sich - natürlich demokratisch - dafür entschieden, die 12 Londoner Symphonien von Joseph Haydn erst bei Konzerten aufzuführen und dann später im Studio aufzunehmen. Sie wollten mit dem Vorurteil aufräumen, dass Joseph Haydns Musik langweilig sei.

Mit dem Komponisten verbindet sie außerdem die Freiheit der Kunst. Bevor Joseph Haydn (1732 - 1809) seine Londoner Symphonien komponierte, war er viele Jahre am Hofe von Fürst Nikolaus von Esterhazy in Wien angestellt. Als sein Arbeitgeber starb, begann für den 58-jährigen Haydn ein neues Leben: Das Hoforchester wurde aufgelöst und er war freischaffender Komponist. Er folgte einer Einladung nach London, wo er gefeiert wurde, große Konzerte gab und Meisterwerke komponierte, darunter die Londoner Symphonien. Und genau diese Freiheit ist es, die die Musiker der DKB auch für sich beanspruchen. Das geht so weit, dass sie während der Aufnahmen der Symphonien in den Abhörsessions mitentscheiden, welche Takes auf die CD kommen und wo noch nachgebessert werden muss.

Demokratie im Kleinen wie im Großen

Damit ist die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen nicht weit weg von Optimierungs-Prozessen in der freien Wirtschaft. Auch dies wurde in der prominent besetzten Podiumsdiskussion in Hamburg deutlich. Prof. Dr. Michael Otto, seit vielen Jahren Unterstützer der DKB, hat die Führungskultur in seinem Unternehmen, der Otto Group mit weltweit 36.300 Mitarbeitenden, komplett umgebaut. Er wollte die Teams stärken, so dass sie mit ihrer Fachkompetenz eigenständig und schnell Entscheidungen treffen können. Beim Podiumsgespräch spricht er sich entschieden gegen das Top-Down-Management aus: "Es ist viel wichtiger heute, dass ein Team sich voll einbringt und dass eine Führungskraft nur die Rahmenbedingungen schafft und nicht autoritär von oben ansagt, was getan werden muss, oder glaubt, er oder sie müsse permanent alles kontrollieren." Wie bei der DKB sei es wichtig, dass es in Unternehmen Freiräume gebe und eine dazugehörige Fehlertoleranz.

Podiumsgespräch in Hamburg, v.l.n.r.: Prof. Dr. Michael Otto, Vorsitzender des Gesellschafterrates der Otto Group; Peter Limbourg, Intendant Deutsche Welle; Anja Würzberg-Wollermann, Programmbereichsleiterin Kultur NDR und Moderatorin der VeranstaltungBild: Axel Martens

Dass Demokratie ein hohes und zugleich gefährdetes Gut ist, weiß auch Peter Limbourg, Intendant der Deutschen Welle, der auf dem Podium mitdiskutiert: "Die Demokratie ist weltweit unter Druck, aber sie ist nach wie vor auch das Beste, was wir haben. Sie sorgt für Checks and Balances und dafür, dass es nicht dazu kommt, dass wenige, die Macht und das Geld haben, allein bestimmen, wo es lang geht." Auch ihn beindruckt der Ansatz der DKB: "Das Orchester trägt die Werte der Demokratie, der Transparenz und des Miteinanders in die Welt."

Am Ende der Veranstaltung steht wieder Livemusik: Ein Ensemble aus acht Musikern spielt ein von Oboist Ulrich König unkonventionell arrangiertes Potpourri aus Werken, die in den vergangenen Jahren für Großprojekte und Symphonie-Zyklen eingespielt wurden. Hier zeigt sich, dass die Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen nicht nur virtuos und kreativ sind, sondern auch viel Humor haben.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen