Experten sollen im Auftrag der Bundesregierung aufzeigen, wie die Diskriminierung von Sinti und Roma verringert werden kann. Dass dies dringend Not tut, beweist einmal mehr ein verheerender Vorfall in Frankreich.
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Eine von Bundesinnenminister Horst Seehofer berufene Kommission hat in Berlin ihre Arbeit aufgenommen. Das Gremium soll bis Anfang 2021 einen Bericht vorlegen, der als Grundlage für anschließende Diskussionen im Bundestag und in der Gesellschaft gedacht ist. Der Kommission gehören Wissenschaftler aus ganz Deutschland an.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßte die Einsetzung der Expertengruppe. Neben dem Kampf gegen rassistische Einstellungen sei es auch wichtig, die "Leistungen und Beiträge von Sinti und Roma zur deutschen und europäischen Kultur in der Gesellschaft sichtbar zu machen", erklärte der Zentralratsvorsitzende Romani Rose in Heidelberg. Er hoffe auch auf Vorschläge im Bereich Bildung. Beispielsweise gebe es für Schulen kaum gute Bildungsmaterialien zum Thema Sinti und Roma.
Experten sprechen von Antiziganismus
Seehofer betonte: "Menschenverachtende Einstellungen sind mit unseren Grundwerten unvereinbar". Sie dürften nicht unwidersprochen hingenommen werden. "Die Expertenkommission Antiziganismus wird Vorurteile und Stereotypen analysieren und Empfehlungen entwickeln, wie diesen entgegengewirkt werden kann."
Der Innenminister hatte die Kommission bereits im Dezember nach Gesprächen mit dem Zentralrat berufen. Eigentlich sollte die Arbeit bereits im Januar beginnen. Im Bundestag war vergeblich um ein parteiübergreifendes Bekenntnis gegen Antiziganismus gerungen worden. In der vergangenen Woche verabschiedete das Parlament lediglich einen entsprechenden Antrag von CDU, CSU und SPD.
Stele in Berlin zum Gedenken an ermordete Sinti und Roma
In Berlin wird am Freitag eine Stele zum Gedenken an die mehr als 500.000 von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma enthüllt. Sie steht am Standort der ehemaligen "Rassenhygienischen Forschungsstelle" des Reichsgesundheitsamtes. Das Denkmal weihen Ralf Wieland, der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, und die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, Petra Rosenberg, ein. Den Beschluss zur Aufstellung der Stele fasste vor zwei Jahren die Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf. Das Denkmal soll daran erinnern, dass in der NS-Forschungsstelle die "rassenbiologischen" Arbeiten erfolgten, die dazu dienten, die Verfolgung und Tötung der Sinti und Roma zu begründen.
Angriffe auf Roma in Vororten von Paris
Frankreichs Regierung verurteilte unterdessen scharf Angriffe auf Angehörige der Roma-Minderheit im Großraum Paris. Ein Regierungssprecher sprach von "inakzeptablen Auswüchsen". Die französische Polizei hatte zuvor 20 Verdächtige festgenommen, die Roma in Vororten im Nordosten der Hauptstadt attackiert hatten. Zuvor hatten sich nach Polizeiangaben in Online-Netzwerken Gerüchte verbreitet, Roma hätten Kinder und junge Frauen verschleppt oder hätten dies versucht. Der Regierungsvertreter sprach von einem eindeutigen Fall von "Fake News". Die Polizei appellierte an die Bevölkerung, die Gerüchte nicht weiterzuverbreiten und nicht zur Gewalt aufzustacheln. Eine Roma-Sprecherin rief das Innenministerium auf, in den betroffenen Gemeinden für Polizeischutz zu sorgen. Sie nannte die Gerüchte "eine Wiederkehr des mittelalterlichen Stereotyps", in dem "Zigeuner Dieben und Kindesentführern gleichgestellt werden".
sti/rb (dpa, epd, kna)
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.