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KonflikteVietnam

Wie der Vietnamkrieg die Vorstellung vom Krieg veränderte

28. April 2025

Vor 50 Jahren endete der Vietnamkrieg. Er veränderte den Blick auf den Krieg, insbesondere auf dessen Langzeitfolgen.

Frauen und Kinder suchen während eines Gefechts in Bao Trai bei Saigon am 1. Januar 1966 Schutz in einem Kanal
Der Vietnamkrieg half anzuerkennen, dass Kriege langfristige seelische Folgen habenBild: Horst Faas/AP Photo/picture alliance

Der Vietnamkrieg gehört zu den längsten militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Er schloss sich unmittelbar an den Krieg gegen die Kolonialmacht Frankreich an und dauerte von 1955 bis 1975. Der Krieg kostete etwa 3,8 Millionen Menschen das Leben. Der Konflikt endete mit der Niederlage des von den USA unterstützten Regimes in Südvietnam und dem Sieg der kommunistischen Kräfte aus Nord- und Südvietnam.

Über den Vietnamkrieg und seine Folgen sind ganze Bibliotheken gefüllt worden. Allerdings gibt es einen Aspekt, der aus Sicht des Wissenschaftshistorikers und emeritierten Professors der Universität Tel Aviv José Brunner im Gespräch mit der Deutschen Welle heraussticht: die Anerkennung und das Begreifen der langfristigen psychischen und gesellschaftlichen Folgen von Kriegen.

Post-Vietnam-Syndrom

Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg war bekannt, dass Soldaten oft noch lange nach Ende des Krieges unter den Gewalterfahrungen litten. Bei den in Deutschland sogenannten Kriegszitterern kam es zu schüttelfrostartigen Anfällen und Panikattacken. Oder die Betroffenen verweigerten Nahrung. Die Medizin war ratlos und entsprechend des Zeitgeistes wurden sie entweder als Simulanten abgetan oder der Selbstheilung der Seele überlassen.

Das änderte sich mit dem Vietnamkrieg. 1972 veröffentlichte der Psychiater Chaim F. Shatan, der mit Vietnamveteranen gearbeitet hatte, in der New York Times einen Bericht über das Post-Vietnam-Syndrom. Shatan schilderte, wie die Veteranen von Schuldgefühlen geplagt wurden, wie der Krieg sie brutalisiert hatte und dass sie an einer tiefen Entfremdung gegenüber ihren Mitmenschen litten. "Das ergreifendste Merkmal ist der quälende Zweifel an ihrer Fähigkeit, andere zu lieben und Zuneigung anzunehmen. Ein Veteran sagte: 'Ich hoffe, ich kann lernen zu lieben, so wie ich gelernt habe zu hassen. Und ich habe wirklich gehasst, Mann! Aber Liebe ist ein ziemlich großes Wort'", so Shatan.

Am 30. April 1975 durchbrachen nordvietnamesische Panzer das Tor zum südvietnamesischen Präsidentenpalast. Nach 20 Jahren war der Vietnamkrieg endlich zu Ende gegangen. Es dauerte fast 30 Jahre, bis der ehemalige Premierminister Vo Van Kiet die Lage der Südvietnamesen anerkennen konnte, als er sagte: "Wenn es eine Million Menschen gibt, die diesen Tag mit Freude erleben, gibt es auch eine Millionen, die ihn mit Trauer erleben"Bild: AP

Brunner betont, dass dieser Artikel für das Verständnis dessen, was Kriege in Menschen anrichten, wegweisend war. "Das war eigentlich die erste Anerkennung, dass der Krieg nicht endet, wenn der letzte Schuss fällt, weil die Soldaten den Krieg unsichtbar in sich weitertragen."

"Posttraumatische Belastungsstörung"

Es dauerte dann noch bis in die 1980er-Jahre, bis die Erkrankung als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft offiziell anerkannt wurde. Eine Untersuchung auf Anordnung des US-Kongresses von 1983 ergab, dass 15 Prozent der Veteranen betroffen waren, insgesamt über 400.000 Personen. Eine Wiederholung der Untersuchung 40 Jahre nach Ende des Vietnamkriegs zeigte, dass jeder Fünfte nach wie vor unter einer PTBS litt und dass Betroffene doppelt so häufig frühzeitig verstorben waren, wie Menschen ohne die Erkrankung.

Mit Hilfe von Therapien und Medikamenten kann PTBS geheilt oder zumindest gelindert werden. Bei dem meisten Betroffenen wird sie mit der Zeit weniger akut.

Ganz anders stellte sich das übrigens in Vietnam dar, wie der Historiker und Vietnamexperte von der Nationaluniversität Seoul Martin Großheim im Gespräch mit der DW sagt: "Ich bin mir absolut sicher, dass die Zahl der vietnamesischen Soldaten, die unter Traumata litten, sehr groß war. Aber das ist nie ein Thema gewesen in Vietnam." Der Hauptgrund ist, dass die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) genau vorgab und bis heute vorgibt, was zum Krieg gesagt und was nicht gesagt werden darf. "Psychische Probleme passten nicht in das offizielle Bild des heldenhaften Kampfs gegen die Amerikaner", so Großheim.

Dass es sie aber gab, zeigt das Beispiel des Schriftstellers und ehemaligen Soldaten Bao Ninh, der 1987 seinen Roman "Die Leiden des Kriegs" veröffentlichte. Die Hauptfigur flüchtet sich vor seinen Kriegserinnerungen in den Alkohol und leidet an einer tiefen Entfremdung von der Gesellschaft. Das fiktive Buch wurde nach Erscheinen sofort verboten.

Gesamtgesellschaftliches Trauma

Die Bewältigung des Traumas ist nicht allein eine individuelle Frage, so Brunner: "Es geht nicht nur um individuelle Therapien. Es reicht nicht, dass alle die Betroffenen jetzt auf die Couch gelegt und behandelt werden müssen und dann alles wieder gut ist. Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Es geht um die Frage, wie die Gesellschaft mit dem Krieg umgeht. Und das hat wiederum Auswirkungen auf die Individuen."

Die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg belegen das gespaltene Verhältnis der US-Amerikaner zum Krieg. Hier eine Demonstration von 1969 in Washington D.C.Bild: Circa Images/glasshouseimages/IMAGO

Der gesellschaftliche Umgang hat nach Brunner mindestens vier Dimensionen: Zum ersten gibt es die Rituale der Erinnerung. Werden Kränze auf Friedhöfen niedergelegt? Gibt es öffentliche Veranstaltungen zum Gedenken? Werden die Soldaten als Helden verehrt, wie in Vietnam, oder eher als Verbrecher gesehen, wie die amerikanischen Vietnamveteranen, die in den Vereinigten Staaten der Nachkriegsjahre als ”Babykiller" verschrien wurden? Zum zweiten spielen populäre Narrative eine Rolle. Damit ist nicht gemeint, wie Historiker über einen Krieg forschen, sondern wie der Krieg in Schulbüchern, in populären Filmen und Romanen dargestellt wird. Zum dritten geht es um die Frage, ob die Kriegsparteien später zu einer Versöhnung gefunden haben. Zum vierten ist wichtig, ob es letztlich eine gesellschaftliche Anerkennung der Untaten und des psychischen Leidens der Soldaten gibt oder ob die Tatsachen verleugnet werden. "In den ersten Jahrzehnten, und ich rede hier aus der Sicht eines Historikers, dass für diesen Prozess Jahrzehnte gar nicht so lange sind, ist die Verleugnung ganz normal."

Jahrzehntelanges Erbe

Im Falle des Krieges muss man Brunner zufolge sowohl individuell als auch gesellschaftlich von einer jahrzehntelangen Nachwirkung sprechen. In Vietnam wird das Ende des Krieges vor 50 Jahren mit Paraden, in Talkshows und politischen Reden gefeiert, aber eben immer nur in den von der KPV vorgegebenen Grenzen. Es geht der Partei darum, die Partei als Garanten für den Erfolg des Landes zu inszenieren, so Großheim. "Nach dem Sieg über die Franzosen kommt der Sieg über die 'amerikanischen Imperialisten', so die offizielle Wortwahl, und dann kommt die siegreiche Reformpolitik". Mit der Reformpolitik sind die wirtschaftlichen Reformen seit dem Ende der 1980er Jahre gemeint, die Vietnams Wirtschaft zu einer der am schnellsten wachsenden der Welt gemacht haben.

Es gibt auch eine Versöhnung, allerdings mit einer eigenartigen Asymmetrie. Während die US-Amerikaner willkommen sind, gibt es bezüglich dem ehemaligen südvietnamesischen Gegner nach wie vor das "große Problem der Wiederversöhnung", wie Großheim sagt. Es werde nicht offen über das Geschehene gesprochen. Das Leid der südvietnamesischen Soldaten werde nur zögerlich anerkannt, was sich auch daran ablesen lasse, dass die Friedhöfe südvietnamesischer Soldaten nach dem Ende des Krieges geschändet und danach lange Zeit vernachlässigt worden seien. Den Angehörigen sei gezielt verwehrt worden, die Gräber zu pflegen.

Das änderte sich erst 2007, als die vietnamesische Regierung den Friedhof wieder zugänglich machte und die Pflege der Gräber wieder erlaubte. "Das war eine wichtiger Beitrag zur nationalen Versöhnung" sagt Großheim. "Ein noch größerer Schritt Richtung Versöhnung mit dem ehemaligen Feind wäre, wenn die vietnamesischen Behörden es den Menschen gestatteten, nach den Überresten der gefallenen und vermissten südvietnamesischen Soldaten zu suchen." Nach wie vor sind die Überreste hundertausender gefallener Soldaten nicht gefunden. In Vietnam, wo der Ahnenkult nach wie vor eine große Rolle spielt, glauben viele, dass die Geister der Verstorbenen erst mit einem Begräbnis zur Ruhe kommen und ihren Frieden finden können.  

Martin Großheims letzte Buchpublikation trägt den Titel: "The Politics of Memory in Socialist Vietnam".

José Brunners neues Buch über den Nahostkonflikt "Brutale Nachbarn. Wie Emotionen den Nahostkonflikt antreiben - und entschärfen können" wird Anfang Mai im Propyläen Verlag erscheinen.

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