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Gesellschaft

Wie die Corona-Krise Obdachlose trifft

Helena Kaschel
20. März 2020

Wohnungs- und Obdachlose sind in diesen Tagen besonders gefährdet: Sie können sich kaum isolieren, viele haben Vorerkrankungen. Gleichzeitig werden zahlreiche Hilfsangebote eingestellt. Ein Kampf an mehreren Fronten.

@dw_stories Armut in Deutschland Berlin Obdachlose
Bild: DW/Shamsan Anders

Der Mann am anderen Ende der Telefonleitung möchte anonym bleiben. Gerade hält er sich in einem Beratungszentrum in Bonn auf. Eigentlich lebt er aber auf der Straße - seit letztem Sommer, wie er erzählt. Anspruch auf Sozialleistungen hat der 46-jährige Osteuropäer nicht. Eine besonders prekäre Situation, die durch die Corona-Krise verschärft wird. "Man hört genug darüber in der Umgebung", sagt er. "Es ist furchtbar, es macht auch Angst, aber das halten wir schon durch. Was soll man machen?" Der Tonfall des Mannes ist mal gelassen, mal resigniert. Ob er das Gefühl habe, sich vor dem Virus schützen zu können? "Wenn ich meine Freiheit habe und ein Bett zum Schlafen. Ich wünsche mir ein Bett irgendwo." Angst, sich anzustecken, habe er nicht. "Aber wer weiß? Was die Symptome sind, habe ich durch die Leitung hier mitbekommen." Immerhin, sagt er, sei er ein sportlicher Typ.

Ans Telefon geholt hat den Mann Nelly Grunwald, Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin des Bonner Vereins für Gefährdetenhilfe (VFG). In den vergangenen zwei Wochen hat sich ihre Arbeit stark verändert. "Seit vorletztem Samstag gibt es in allen Einrichtungen an jeder Eingangstür Desinfektionsmittelspender. Wir haben eine Menge Aufklärungsmaterial aufgehängt, wir reden sehr viel mit den Leuten darüber. Aktuell machen wir natürlich auch eine ganze Menge Zugangssteuerung, das heißt, wir schauen, dass es nicht zu Menschenansammlungen in den Einrichtungen kommt."

Nelly Grunwald und Joachim Krebs vom VFGBild: VFG

Derzeit biete die Wohnungslosenhilfe des Vereins keine Gruppenaktivitäten mehr an. In ein Café, in dem Essen ausgegeben wird, darf man nur noch einzeln eintreten. Beratungsgespräche würden möglichst kurz gehalten, Drogenkonsumplätze "örtlich entzerrt", Tische zu Abstandhaltern umfunktioniert. Dass Obdachlose sich draußen träfen, sei allerdings nicht zu verhindern. "Wir sagen: Leute, das ist gefährlich, was ihr macht, aber wir schmeißen uns nicht dazwischen. Wir bringen die eigenen Mitarbeiter nicht in Gefahr, denn es ist wichtig, dass wir die Angebote aufrechterhalten." Die meisten ihrer Klienten hätten das Thema Corona aber auf dem Schirm. "Sie sind unendlich verständnisvoll, was Regelungen angeht. Sie sind sehr vernünftig und wollen sich auch nicht bei uns anstecken. Sie regulieren sich teilweise auch untereinander."

Viele Einrichtungen fühlen sich im Stich gelassen

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) waren im Laufe des Jahres 2018 gut 237.000 Menschen - Geflüchtete ausgenommen - in Deutschland wohnungslos. Rund 41.000 von ihnen lebten demnach auf der Straße. Wohnungs- und Obdachlose seien mit Blick auf die Ausbreitung des Coronavirus besonders gefährdet, sagt BAG W-Geschäftsführerin Werena Rosenke. "Die Maßnahmen, zu denen die Bürgerinnen und Bürger, die ein einer Wohnung leben, aufgefordert werden - die sozialen Kontakte zu minimieren, sich zurückzuziehen, nur noch die nötigsten Dinge in der Öffentlichkeit zu erledigen, größere Menschenansammlungen zu vermeiden - all das können Wohnungs- und Obdachlose Menschen nicht."

In Notunterkünften, einige mit Hunderten von Plätzen und Mehrbettzimmern, hielten sich viele Menschen auf engem Raum auf. Zudem hätten viele Wohnungs- und Obdachlose Vorerkrankungen, chronische oder Mehrfacherkrankungen, seien oftmals nicht krankenversichert und gingen darum nicht regelmäßig zum Arzt.

Ausgangssperre bei Wohnungslosen, wie soll das gehen?Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Die BAG W hat ihre Einrichtungen zum Umgang mit dem Coronavirus befragt. "Die Rückmeldungen, die wir haben, zeigen, dass sich der allergrößte Teil der Dienste und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe von Politik und Verwaltung, von Gesundheitsämtern ziemlich im Stich gelassen fühlt", sagt Rosenke. "Es gibt offensichtlich wenige Informationen über das, was sie tun sollen und können. Viele sind auf Eigeninitiative unterwegs." Vielfach fehle es an Schutzkleidung, Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln. Zudem müssten zahlreiche Angebote eingestellt werden, etwa niedrigschwellige medizinische Versorgungsprojekte - auch weil viele Tätigkeiten von Ehrenamtlichen ausgeführt werden, die nun zu einer Corona-Risikogruppe gehören.

Wohraum angesichts von Corona "Frage von Leben und Tod"

Inzwischen schlagen sogar die Vereinten Nationen Alarm. "Wohnen ist zur ersten Verteidigungslinie gegen das Coronavirus geworden. Wohnraum hat selten so sehr über Leben und Tod entschieden", heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Mitteilung der UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen, Leilani Farha.

Um die Lage zu entschärfen, fordert die BAG W unter anderem, dass Zwangsräumungen ausgesetzt werden, Notunterkünfte auch am Tag ihre Türen öffnen und Kommunen zusätzlichen Wohnraum schaffen. "Im Augenblick prasselt sehr viel auf die kommunalen Ämter ein, insbesondere auf die Gesundheitsämter und Sozialbehörden, so dass hier vieles gleichzeitig zu regeln ist, aber die Städte arbeiten daran", versichert Uwe Lübking vom Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB). So unterstützten auch kommunale Wohnungsunternehmen die Forderung, Räumungen während der Corona-Krise auszusetzen. Der Deutsche Mieterbund hatte sich für einen vorübergehenden Kündigungsausschluss ausgesprochen.

Düsseldorf will obdachlose Menschen unter anderem in einem leerstehenden Hotel unterbringen, Hannover einem Medienbericht zufolge 80.000 Euro bereitstellen, um Hilfsbedürftige zu versorgen. Kommunen setzten in Zusammenarbeit mit Verbänden vor Ort vermehrt Streetworker ein und versuchten, Helfer mit Schutzkleidung auszustatten, sagt Lübking. Jedoch könnten nicht alle Städte gleich viel leisten. "Eine Stadt wie Düsseldorf, die relativ gute Finanzkraft hat, kann mehr tun als eine Stadt wie Dortmund oder Duisburg, die hochverschuldet ist." Bund und Länder sollten deshalb "nicht nur Rettungsschirme für Unternehmen und ähnliches" spannen, sondern auch für die Kommunen.

Auch die Unterkünfte sind ein Problem: die Menschenansammlungen und der drohende Lagerkoller Bild: picture alliance/dpa/M. Gambarini

Ausgangsbeschränkungen und Quarantäne: neue Herausforderungen

In Bonn fühlt sich Sozialarbeiterin Nelly Grunwald von der Stadt ausreichend unterstützt und informiert. Ein weiterer Lichtblick: Eine Apotheke hat dem Verein Atemmasken zu Verfügung gestellt, die nicht zuletzt für die Wiederbelebung von Menschen bei Drogennotfällen wichtig sind - "eine Wahnsinnserleichterung", sagt Grunwald. Sorgen macht ihr dagegen, dass die Verkäufer der Obdachlosenzeitung derzeit kaum Geld verdienten, weil in der Stadt kaum jemand unterwegs sei oder die Leute Abstand hielten.

Ein Szenario, das bei allen Ansprechpartnern Fragen aufwirft, sind mögliche Ausgangsbeschränkungen in Deutschland. Darüber wollen Bund und Länder Medienberichten zufolge an diesem Sonntag beraten. "Wie halten wir die Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften? Viele wollen raus", sagt Uwe Lübking vom DStGB. "Sie haben Alkoholprobleme, in den Einrichtungen darf aber nichts getrunken werden, oder es gibt keine Rauschmittel, die sie aber brauchen. Das ist sehr, sehr schwierig. Da fehlt mir noch die Fantasie, wie man das für diesen Personenkreis hundertprozentig umsetzen könnte."

Ähnlich problematisch kann es sein, eine ganze Notunterkunft unter längere Quarantäne zu stellen Davon ist derzeit etwa ein Winternotprogramm in Hamburg betroffen. "Wenn so eine Situation eintreten würde, müssten wir das sehr ausgewogen mit der Stadt besprechen", sagt Nelly Grunwald.

Angesichts der Corona-Pandemie, bilanziert die Sozialarbeiterin, könne sich jeder Mensch, der eine Wohnung habe, "unendlich glücklich schätzen, weil er spürt, dass er ein Gut hat, wo er nicht so gefährdet ist. Das ist die Stunde, in der man sagen kann: Eigener Wohnraum ist wirklich Gold wert."

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