Die "Deutschen" verändern eine Roma-Siedlung
8. April 2018"Es gab gute Arbeit in Deutschland im vergangenen Jahr: Plattenbauten abreißen, ohne Sprengstoff, per Hand. Sobald bei einem türkischen Bauunternehmer in Deutschland eine Arbeitskraft fehlte, rief er in Stolipinowo an. Und unser Mann war schon am nächsten Morgen unterwegs", erzählt Gülce aus dem Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw. Die meisten ihrer Verwandten und viele Nachbarn sind schon in Deutschland. "Alle kommen sehr gut durch, haben Arbeit und eine Wohnung. Es gab ein paar Familien, die Sozialgeld bezogen haben, aber auch die haben mittlerweile Arbeit." Die meisten Roma aus Stolipinowo fahren nach Dortmund, auch nach Köln fahren viele, sagt Gülce.
Stolipinowo, die größte Roma-Siedlung in Europa, wurde Ende des 19. Jahrhunderts als "Roma-Dorf" in der Nähe von Plowdiw errichtet. Mittlerweile ist die Stadt gewachsen und Stolipinowo befindet sich mittendrin. Einen enormen Bevölkerungszuwachs erfuhr die Siedlung Anfang der 1990er Jahre, als im Wahlkampf ein führender Politiker offiziell kostenlosen Strom für die ganze Siedlung versprach. Damals zogen Roma aus ganz Bulgarien nach Stolipinowo. Heute lässt sich die Bevölkerungszahl nur ungefähr überblicken. Schätzungen zufolge sollen zwischen 30.000 und 40.000 Roma dort leben.
Die Roma-Siedlung ist ein typisches Beispiel wilder Bebauung. Kioske und Baracken entstehen täglich überall, ohne Plan und Genehmigung. Die Kommunalverwaltung lässt sie ständig abreißen, eine Woche später stehen sie wieder. Vor zwei Jahren wurden zum Beispiel in einer Großaktion ein Dutzend illegaler Bauten nach einer Beschwerde der Nachbarn abgerissen. Das Ungewöhnliche dabei: Die Beschwerden kamen allesamt von Roma, die in Dortmund gutes Geld verdienen und schöne Häuser in derselben Straße gebaut hatten. Die "Deutschen", wie man sie in Stolipinowo nennt.
"Sie haben einfach andere Gewohnheiten"
"Wenn sie im Sommer zurückkehren, erkennt man sie sofort auf der Straße. In der Siedlung bin ich zum Beispiel immer in meinen Hauslatschen unterwegs, das stört mich nicht. Sie aber sind gut angezogen, mit ordentlichem Schuhwerk, sauber", erzählt Gülce. "Nicht, das sie damit angeben, nein, sie haben einfach andere Gewohnheiten. Das hat auch mich dazu gebracht, mich ordentlich anzuziehen, wenn ich auf die Straße gehe."
Im vergangenen Jahr kam eine Besuchergruppe aus Dortmund nach Stolipinowo - vor allem Vertreter der Stadt und Nichtregierungsorganisationen, die vor Ort in Deutschland mit den bulgarischen Roma arbeiten. Sie wollten die Menschen darüber aufklären, dass ein Arbeitsvertrag in Deutschland nicht von heute auf morgen und nicht ohne weiteres zu bekommen sei. Zuerst müsse man einen Deutschkurs belegen, dann sich ausbilden lassen, alle notwendigen Papiere zusammenstellen und erst dann könne man arbeiten, so die Gäste aus Dortmund. Im Publikum gab es lange Gesichter, ein bisschen Kichern, etwas Unverständnis, aber unterm Strich war die Botschaft angekommen.
Und viele Roma halten sich auch an diese Vorgaben. Innerhalb eines Jahres haben rund 300 Roma in Dortmund die Bedingungen erfüllen können und sind in legalen Arbeitsverhältnissen angekommen. Und es sind genau diejenigen, die in den Sommerferien eine neue Mentalität nach Stolipinowo mitbringen. Sie sind aber immer noch in der Minderheit. Unter den Tausenden, die jährlich nach Dortmund und Köln pendeln, sind auch viele, die weder die Geduld noch die Muße haben, die Hürden zu überwinden.
Eine "deutsche" Chance in Stolipinowo
"Ich bin mit Mann und Kindern nach Dortmund gefahren. Mehr als vier Monate aber haben wir es nicht aushalten können. Wir hatten keine Papiere, die Tante meines Mannes wollte 150 Euro Miete für das eine Zimmer, die wir nicht auftreiben konnten. Woher auch? Wir hatten ja keine Arbeit", erzählt Nigiar. Ihre Familie ist nach Stolipinowo zurückgekehrt. Viele andere sind aber geblieben und haben Arbeit gefunden. In der Gastronomie oder auf dem Bau, meistens bei türkischen Arbeitgebern. Und oft illegal.
Fani ist 30 Jahre alt und hat vier Kinder. Ihr Ehemann ist berufstätig und denkt gar nicht daran, nach Deutschland zu gehen. Zusammen mit Nigiar und vier weiteren Frauen hat sie neulich aber doch ihre "deutsche" Chance gefunden - in Plowdiw, in einer Näherei, die von bulgarischen NGOs und von dem Dortmunder Rotary Club ins Leben gerufen wurde. Frauen aus Stolipinowo, die als arbeitslos angemeldet sind, werden hier sechs Monate lang ausgebildet und am Ende der Ausbildung können sie auch einen Arbeitsplatz in der Näherei bekommen. Für den neuen Ausbildungszyklus haben sich zwanzig Frauen angemeldet. Es gibt aber ein Problem: Es gibt nur acht Nähmaschinen.
Seit die Roma dank der Reisefreiheit innerhalb der EU im Ausland arbeiten können, sind in Stolipinowo viele neue Häuser entstanden, die meisten davon illegal. Einige der "Deutschen" kaufen aber auch Wohnungen in den Plattenbauten am Rande von Stolipinowo, die ansonsten von Nicht-Roma bewohnt werden. So bleiben sie in der Nähe der eigenen Gemeinde, wenn sie für die Ferien zurückkehren, wohnen aber "zivilisierter" und ganz legal. Die Wohnungen sind für sie durchaus erschwinglich: etwa 25.000 Euro für 60 Quadratmeter. Und: Im Umfeld der Plattenbauten ist es sauber, kein Müll liegt herum - davon sind auch die Bewohner von Stolipinowo beeindruckt. Inzwischen versuchen sie teilweise, das nachzuahmen.
"In der Türkei werden wir geschlagen, in Deutschland hilft man uns"
Die Siedlung, die im Sommer einem großen Markt ähnelt, wirkt im Winter viel trister. "Wir warten schon auf die 'Deutschen', dann laufen die Geschäfte echt gut", erzählt Gülce, die einen kleinen Laden für Haushaltswaren betreibt. Den Unterschied zwischen den Eingesessenen und den "Deutschen" merkt man nicht nur an der Kaufkraft, an den Häusern und an der Kleidung, fügt ein freundlicher junger Mann hinzu.
Sascho hat auch sein Glück in Deutschland versucht, ist aber zurückgekehrt. "Unsere Kinder hier können selbst mit einem Realschulabschluss kein gutes Bulgarisch sprechen und in Deutschland lernen sie innerhalb von drei Monaten Deutsch", seufzt er. Das liegt vor allem daran, dass viele Roma in Stolipinowo ungern als bulgarische Roma, sondern lieber als bulgarische Türken identifiziert werden wollen. Aber dann sollten sie vielleicht in der Türkei Arbeit suchen, sie sprechen doch Türkisch, oder? Über diesen Vorschlag kann Sascho nur lachen: "Oh, nein! In der Türkei wird unsereiner geschlagen. Und in Deutschland hilft man uns."
Stolipinowo verändert sich langsam. Und diese Veränderung ist hausgemacht. Es wird wohl lange dauern, aber die ersten Anzeichen sind schon da. "Weißt du, große Schwester, in Deutschland, selbst wenn du einen Sonnenblumenkern auf der Straße essen solltest und die Hülle liegen lässt, kommt die Polizei und bestraft dich", erzählt Nigiar. In Stolipinowo sind die Müllcontainer Mangelware, die Kommunalverwaltung kümmert sich herzlich wenig darum. Deswegen hat Gülce zwei schwarze Müllsäcke vor dem Ladeneingang aufgestellt - damit die Kunden die Straße sauber halten. Das hat sie in Dortmund so gesehen, als sie ihren Onkel besuchte.