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KonflikteUkraine

Ukraine: Wie die Luftabwehr russische Angriffe stoppt

Oleksandra Indyukhova
15. Juni 2023

Tragbare Flugabwehrsysteme sind ein wichtiger Bestandteil der ukrainischen Luftverteidigung. Kämpfer eines mobilen Einsatztrupps haben der DW erzählt, wie sie den Luftraum über der Region Kiew schützen.

Soldaten eines mobilen Trupps der Streitkräfte der Ukraine
Soldaten eines mobilen Luftabwehr-Trupps der Streitkräfte der UkraineBild: Oleksandra Indyukhova/DW

Es ist ein wolkenloser Tag am Ufer eines Stausees im Großraum Kiew. Am Ufer sitzen einige Fischer, mehrere Familien genießen auf Klappstühlen die Sonne. Plötzlich fährt ein schwarz-grünes Hummer-Militärfahrzeug mit einem montierten Stinger-Flugabwehrsystem vor. Die Menschen packen schnell ihre Sachen und schauen auf ihre Mobiltelefone, ob es eine Raketenwarnung gibt.

Zwei Militärs steigen aus dem Auto und beruhigen die Menschen. Dieses Mal handele sich lediglich um eine Übung eines mobilen Luftabwehrtrupps. Oleksandr, der verantwortliche Kommandeur, weist aber darauf hin, dass im Falle eines Luftangriffs alle das Ufer sofort zu verlassen hätten. "Es ist lebensgefährlich, sich in der Nähe eines Gewässers im Freien aufzuhalten, weil von Zeit zu Zeit russische Raketen und iranische Schahed-Drohnen hier entlangfliegen, die wir abfangen", sagt der 36-Jährige der DW. Sein Kamerad, der 39-jährige Iwan, läuft in voller Bewaffnung das Gelände ab und schaut sich alles genau an, was sich auf dem Wasser, am gegenüberliegenden Ufer und in der Umgebung befindet.

Dual Mount Stinger-Systeme können Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber abschießenBild: Oleksandra Indyukhova/DW

"Man braucht gutes Sehvermögen und Einfallsreichtum"

Das Ufer des Stausees ist einer von vielen Orten, von denen aus die ukrainische Luftabwehr von Zeit zu Zeit Ziele abschießt. Das tragbare Flugabwehrsystem von Oleksandr und Iwan heißt Dual Mount Stinger. Es kann Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber aus einer Entfernung von fünf Kilometern und in einer Höhe von bis zu drei Kilometern abschießen. Zusammen mit Iwan stellt Oleksandr eine echte Kampfsituation nach, die sie schon oft durchlebt haben: Schnell ziehen sie Kisten mit Raketen aus dem Fahrzeug, öffnen sie, stecken die Geschosse in ihren Raketenwerfer.

Oleksandr springt auf das Fahrzeugdach und beginnt, den Luftraum zu inspizieren. Dabei dreht er sich auf einem speziellen Sitz. "Ich kann zwei Raketen in fünf Sekunden abfeuern", erklärt er. "Unser Radar signalisiert mir ein Ziel in der Luft, bevor ich es sehe, übermittelt Koordinaten und gibt an, wohin ich zielen soll - nach oben, nach unten. Wenn ich das Ziel erfasse, bekomme ich das Signal 'Feuer'." Außer der russischen Kinschal-Hyperschallrakete könne er so "eigentlich alles" vom Himmel holen, sagt Oleksandr. Mehr Einzelheiten darf er nicht preisgeben. Nur soviel: "Man braucht gutes Sehvermögen und Einfallsreichtum. Das System kann auch eine Wolke über einer Drohne als Ziel betrachten. Und dann muss ich mir schnell was überlegen, um tatsächlich an die Drohne zu kommen."

In den letzten Wochen fanden die meisten russischen Raketenangriffe auf Kiew und die Region nachts statt. Oleksandr und Iwan geben zu, dass dies sehr angespannte Nächte waren. Es sei dann viel schwieriger, Ziele zu erkennen, und es gebe viel zu viele davon. Iwan zufolge will die russische Armee die Bestände der ukrainischen Luftverteidigung, aber auch deren Kampfmoral schwächen. Doch dies werde nicht funktionieren. "Weil wir genug Raketen haben und weil wir auch gelernt haben, nachts nicht zu schlafen", so Iwan.

Natürlich könne nicht jeder einer solchen Belastungen standhalten, sagt Oleksandr, auch nicht jeder Soldat: "Aber ich bin es mittlerweile gewohnt, auch nachts acht Stunden wach zu bleiben. Ich kann mich auch um 15 Uhr hinlegen und bis 18 Uhr schlafen, weil ich weiß, dass es nachts wieder losgehen kann."

"Ich bin für viele Menschenleben verantwortlich"

Auf die Frage, wie er sich fühle, wenn es nicht gelinge, ein Ziel abzuschießen, ringt Oleksandr nach Worten. Psychisch sei das sehr schwierig, wenn er mitbekomme, dass eine Drohne oder eine Rakete ein Wohngebäude, einen Kindergarten, eine Schule oder ein Krankenhaus getroffen hat. "Mir ist dann klar, dass ich es nicht geschafft habe, Leben zu retten. Ich bin für viele Menschenleben verantwortlich". Deshalb trainierten die Soldaten ständig, fügt Iwan hinzu. Für jedes abgeschossene feindliche Ziel malen sie einen Dreizack, das Staatswappen der Ukraine, auf ihr Fahrzeug. Zwölf Wappen zieren den Hummer.

Zwölf Symbole auf dem Fahrzeug stehen für zwölf abgeschossene feindliche ZieleBild: Oleksandra Indyukhova/DW

Über die Arbeit solcher mobiler Trupps hat das Luftverteidigungs-Kommando der ukrainischen Armee der Presse bislang keinerlei Informationen gegeben. Jetzt, nach mehr als einem Jahr Krieg, darf Oleksandr über seine Erfahrungen sprechen. In den ersten Kriegsmonaten habe er in der Region Kiew zwei Su-25-Flugzeuge und zwei K-52-Hubschrauber abgeschossen. Helikopter seien besonders schwer zu treffen, so Oleksandr. Die Schwierigkeit sei, sagt er, dass diese Hubschrauber Raketen mit einem Laser abwehren würden. "Es hieß, man könne sie nicht abschießen. Aber alles ist möglich, wenn man es versucht. Ich habe ständig meine Position gewechselt, bin unter Artilleriefeuer gekommen, es letztendlich aber geschafft", berichtet er. Zudem habe er insgesamt acht Drohnen an anderen Orten der Region Kiew und in Charkiw abgefangen.

Erleichterung dank IRIS-T und Patriot-System

Nach Schätzungen des Kommandos der Streitkräfte der Ukraine wehrt die ukrainische Luftverteidigung inzwischen auch massive Raketenangriffe auf die Region Kiew erfolgreich ab. Der Erfolg hängt dabei gerade von den mobilen, nur schwer zu ortenden tragbaren Flugabwehrsystemen ab, die sich schnell auf- und wieder abbauen lassen. Für Oleksandr und Iwan sei es eine Erleichterung gewesen, sagen sie, als die Ukraine von ihren Partnern die leistungsstarken Raketenabwehrsysteme IRIS-T und Patriot erhielten. 

Zeichnungen von Kindern in einem Fahrzeug des mobilen TruppsBild: Oleksandra Indyukhova/DW

Den Umgang mit dem Dual Mount Stinger lernte Oleksandr noch vor dem Krieg: "Dieses tragbare Flugabwehrsystem hat uns Litauen gegeben, und wir haben einen Schnellkurs absolviert." Oleksandr war schon vor Kriegsausbruch Berufssoldat und folgte dem Befehl, den Luftraum über der Ukraine zu schützen: "Ich bin in den Krieg gezogen, um die Ukraine, meine Familie - meine Frau und mein Kind, das ich acht Monate lang nicht gesehen habe, zu beschützen." Iwan hingegen erhielt seine Ausbildung erst während des Krieges. Seine Motivation, in der Luftverteidigung zu dienen, hat mit seinem Beruf zu tun, denn vor dem Krieg war er beim Katastrophenschutz und rettete Menschen das Leben: "Ich verteidige mein Land und meine Familie."

Wie viele solcher mobiler Luftabwehrtrupps die Region Kiew schützen, verraten die beiden nicht. Jeder würde es zu spüren bekommen, wenn es zu wenige wären, sagen sie. Und sie versprechen, nach dem Krieg alles zu erzählen - wie viele Einsätze erfolgreich waren, aber auch welche Verluste es gab.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk