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Politik

Wie die US-Waffenlobby die Pandemie missbraucht

Jordan Wildon
25. April 2020

Ultrakonservative Waffenrechtsaktivisten in den USA nutzen Webseiten und Facebook-Gruppen, um die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen anzuheizen. Ihre Ziele sind langfristig. Eine DW-Recherche.

USA | Pennsylvania | Proteste gegen Coronavirus-Beschränkungen
Bild: picture-alliance/AP/Pittsburgh Post-Gazette/A. Rush

Hinter mehreren Gruppen, die in verschiedenen US-Bundesstaaten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestieren, stecken konservative Mitglieder der US-Waffenlobby. Eine DW-Recherche legt nahe, dass die koordinierte Aktion offenbar auch ein langfristiges Ziel verfolgt: eine Lockerung der Waffengesetze.

Seit Mitte April organisieren sich in den USA tausende Menschen im Netz und fordern bei Demonstrationen ein Ende der Ausgangsbeschränkungen im Land. Auf ihren Facebook-Seiten schreiben die Organisatoren einiger Proteste, die Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus seien das Werk von "Politikern auf einem Machttrip", die "unsere Unternehmen zerstören, Gesetze hinter unserem Rücken verabschieden und uns zwingen, unsere Freiheiten und unsere Lebensgrundlage aufzugeben."

Mobilisierung via Waffenlobby-Seiten

Die anhaltenden Proteste finden unter dem Motto "Reopen America" ("Macht Amerika wieder auf") statt. Zwischen dem 8. und dem 16. April wurden mindestens 34 Internetdomains mit ähnlichen Namen gekauft,  etwa www.reopeniowa.com oder www.reopenpa.com für die Bundesstaaten Iowa und Pennsylvania.

Wer diese Webadressen eingibt, landet automatisch auf den Webseiten von Waffenlobby-Gruppen. Dort wird unter anderem fälschlicherweise behauptet, das Coronavirus sei "deutlich weniger tödlich als die Grippe". Und weiter heißt es: "Präsident Trump hat sehr deutlich gemacht, dass wir Amerika sehr schnell wieder zur Arbeit schicken müssen, weil sonst das 'Heilmittel' für diese schreckliche Krankheit schlimmer sein könnte als die Krankheit selbst!"

Weil so viele "Reopen"-Webadressen in sehr kurzer zeitlicher Abfolge registriert wurden, witterten Social-Media-Nutzer bald sogenanntes "Astroturfing" - den Versuch, eine Kampagne, hinter der eine einzelne Person oder Gruppe steht, wie eine gesellschaftliche Massenbewegung aussehen zu lassen.

Von den 34 Webadressen sind derzeit 16 aktiv. Fünf davon lassen sich zu einer einzigen Familie im Mittleren Westen zurückverfolgen – den Dorrs. Diese fünf "Reopen"-Webseiten wurden für Iowa, Minnesota, Pennsylvania, Wisconsin and Ohio registriert. In allen fünf Staaten darf man mit einer staatlichen Genehmigung offen Waffen mit sich zu führen.

Für die Dorrs, ultrakonservative Waffenrechtsaktivisten, sind diese Gesetze nicht freiheitlich genug.

Vor allem drei der Dorr-Brüder - Ben, Aaron und Chris - kämpfen politisch für das uneingeschränkte Recht, eine Waffe zu tragen. Obwohl sie glühende Anhänger von Donald Trump sind, bringt sie das oft in Konflikt mit der Republikanischen Partei des Präsidenten. Denn viele republikanische Abgeordnete und Senatoren sind den Dorrs mit Blick auf die Waffengesetzgebung nicht freiheitlich genug. Auf der Suche nach neuen Unterstützern zündeln sie jetzt offenbar gezielt in der Protestbewegung gegen Ausgangs- und Kontaktsperren, um politischen Druck aufzubauen.      

Unterstützung aus dem Weißen Haus

Gesundheitsexperten warnen davor, dass größere Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zum steilen Anstieg der COVID-19-Fälle in den Vereinigten Staaten beitragen könnten. Mehr als 900.000 Menschen sind in den USA nach Angaben der Johns Hopkins Universität bisher an dem Virus erkrankt, etwa 52.000 sind verstorben (Stand 25. April). Kein anderes Land ist derzeit stärker betroffen.

Dennoch hat Präsident Trump die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen öffentlich unterstützt. "BEFREIT MICHIGAN! ", "BEFREIT MINNESOTA!" und "BEFREIT VIRGINIA, und rettet euren großartiges Zweiten Zusatzartikel. Er wird bedroht! ", schrieb Trump am 17. April auf Twitter.

Das Second Amendment, der Zweite Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, garantiert Bürgern das Recht auf das Tragen von Waffen. Trump gilt als starker Verfechter dieses Verfassungszusatzes. Das zeigt sich auch jetzt in der Corona-Krise: Die Waffengeschäfte bleiben als "essenzielle" Unternehmen geöffnet.

Auch die Dorr-Brüder setzen sich für den Zweiten Verfassungszusatz ein - und fordern eine Gesetzgebung, die es Waffenbesitzern erlaubt, Handfeuerwaffen offen oder verdeckt ohne jede Lizenz oder Genehmigung zu tragen.

Solche Gesetze sind in mehreren US-Bundesstaaten bereits in Kraft - nicht aber in den fünf Staaten, für die die Dorr-Brüder die "Reopen America"-Webadressen gekauft haben. Gemessen an ihren bisherigen politischen Aktivitäten liegt der Verdacht nahe, dass sie die Unruhen und Ängste rund um die Corona-Pandemie nutzen wollen, um mehr Unterstützer für die Waffenlobby zu gewinnen.

Bild: secondamendmentpolitics

Die DW hat die Dorrs um eine Stellungnahme gebeten. Die Anfrage blieb bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbeantwortet.  

Gewaltaufrufe und Verschwörungstheorien

Weitere Hinweise auf die langfristigen strategischen Ziele der Dorr-Brüder lassen sich in ihren Facebook-Gruppen gegen den Corona-"Lockdown" finden, die inzwischen mehr als 200.000 Mitglieder haben.

Auffällig ist, dass die beiden Facebook-Gruppen "Reopen Minnesota" (ehemals "Minnesotans Against Excessive Quarantine") und "Pennsylvanians Against Excessive Quarantine" fast exakt die gleiche Beschreibung haben. Die entsprechenden Webadressen wurden am 8. April registriert - im Abstand von nur zwei Minuten. Ben Dorr und Matt Dorr, der ansonsten kaum in Erscheinung tritt, werden als Administratoren geführt. Gemeinsam mit ihrem Bruder Chris Dorr sind sie auch Administratoren bei weiteren Protest-Gruppen.

Auf seiner persönlichen Facebook-Seite teilt Chris Dorr derzeit unter anderem Memes, die das Coronavirus als "Fake" darstellen. Er postet Verschwörungstheorien, in denen es darum geht, wie die US-Regierung den Menschen angeblich die Freiheit nehmen will. Und er behauptet: wenn die "Abtreibungs-Mühlen" für zwei Wochen geschlossen blieben, werde das Virus "mehr Menschen gerettet haben als es getötet hat".

Bewaffnete Veteranen demonstrieren am 23. April in Topeka in Kansas gegen den "Lockdown"Bild: Getty Images/J. Squire

In den Kommentaren unter seinen Posts finden sich Aussagen wie "Ich möchte nur meine SKS aufwärmen" - ein Verweis auf ein halbautomatisches Gewehr. In einem Kommentar vom 21. April heißt es: "Ich besitze einen Waffenladen und das Geschäft läuft so gut wie nie!" Andere Kommentare auf Chris Dorrs Profil rufen zur Gewalt gegen liberale Politiker auf und bedienen sich einer Sprache, die mit der rassistischen Hassgruppe Ku Klux Klan in Verbindung steht.

Facebook wollte diese Äußerungen auf Anfrage nicht kommentieren. Man überprüfe aber weiterhin Inhalte, die mit den Protesten gegen Corona-Schutzmaßnahmen in Verbindung stünden, hieß es. "Solange die Regierung die Veranstaltung während dieser Zeit nicht verbietet, dürfen sie auf Facebook organisiert werden. Aus demselben Grund sind Veranstaltungen, die die Richtlinien der Regierung zur sozialen Distanzierung missachten, auf Facebook nicht erlaubt", sagte ein Facebook-Sprecher der DW.

Das digitale Imperium der Dorrs

Links auf ihren privaten Facebook-Seiten und in den Gruppen, bei denen die Dorr-Brüder als Administratoren geführt werden, lassen Rückschlüsse darauf zu, wie groß die Zahl der Webseiten ist, die sie tatsächlich betreiben. Die Verbindung erschließt sich durch öffentlich einsehbare Registrierungseinträge, die das Datum und die Uhrzeit des Webadressen-Kaufs anzeigen.

Solche Einträge sind vergleichbar mit einem Grundbucheintrag und sollen sicherstellen, dass die entsprechende Webadresse für eine bestimmte Laufzeit - meist mindestens für ein Jahr - nur von dem aktuellen Besitzer genutzt werden kann.

Die "Reopen"-Webseiten für Ohio, Pennsylvania und Minnesota wurden unmittelbar nacheinander registriert - ein Hinweis darauf, dass sie im Rahmen derselben Transaktion gekauft wurden. Zudem haben sie alle die gleiche Google Analytics-Tracking-Identifikationsnummer. Das ist ein Code zum Verfolgen von Webseitenbesuchen. Die Webseiten für die Staaten Iowa and Wisconsin nutzen diesen Code ebenfalls und wurden auch am selben Tag registriert.  

Die Waffenrechts-Webseiten der Dorrs, auf die die meisten der "Reopen"-Webadressen den Nutzer weiterleiten, sehen gleich aus und enthalten ähnliche, oftmals identische Texte. Eine Analyse des HTML-Codes zeigt Verbindungen der Dorrs zu anderen Webseiten, Gruppen und Personen auf.  Wie groß der politische Einfluss der Dorrs wirklich ist, lässt sich kaum einschätzen.

Die DW hat jedoch weitere Verbindungen zu anderen Waffenrechts-Webseiten, Anti-Abtreibungs-Webseiten und zu gezielten Kampagnen gegen US-Senatoren, die Waffenrechte nicht lockern wollen, identifiziert.

Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Harrisburg in Pennsylvania am 20. AprilBild: Reuters/R. Wisniewski

Diese großangelegte Online-Aktivität der Familie Dorr verstärkt den Eindruck, dass größere Teile der amerikanischen Bevölkerung die Corona-Schutzmaßnahmen ablehnen. Tatsächlich unterstützen aber fast 70 Prozent der republikanischen und 95 Prozent der demokratischen Wähler die nationale Anordnung, zu Hause zu bleiben, wie eine aktuelle Meinungsumfrage der Quinnipiac-Universität ergab.

"Das ist purer Wahnsinn"

Einer, der den "Lockdown"-Protesten etwas entgegensetzen will, ist Michael Murphy, ein Kleinunternehmer aus Florida. Als er am 17. April einen Artikel über die Demonstrationen gegen die Schutzmaßnahmen gelesen hatte, schritt er zur Tat, und kaufte mehr als 200 Webadressen, darunter "Reopen"-Adressen, die noch verfügbar waren, und solche, die mit ähnlichen Begriffen anfingen, zum Beispiel mit "liberate" ("befreit"). 

Er habe verhindern wollen, dass noch mehr solcher Protest-Seiten registriert und missbraucht werden, sagt Murphy im Gespräch mit der DW. "Ich bin in mein Arbeitszimmer gerannt und habe alle Variationen davon gekauft". 4000 Dollar habe er dafür aus eigener Tasche bezahlt. Er habe erst später entdeckt, dass viele andere "Reopen"-Domains "mit all diesen Waffenseiten verlinkt sind". 

Ein Freund habe ihm dann später geraten, seine Domains an progressive politische Gruppen zu verkaufen. Sie könnten "für Böses missbraucht werden, wenn du sie nicht an irgendjemanden weiterverkaufst, außer an bewaffnete Idioten", heißt es in der Nachricht, die der DW vorliegt.

Michael Murphy: Webadressen sind "ein mächtiges Werkzeug"Bild: Eco Relics/ Gary Lang

Als Murphys Käufe öffentlich bekannt wurden, wurde auch er in viralen Social Media-Posts des "Astrosurfings" beschuldigt. Vertreter des linksliberalen politischen Spektrums warfen ihm vor, die "Lockdown"-Proteste losgetreten zu haben und ein russischer Spion zu sein. "Mein Telefon hat angefangen zu klingeln. Erst war es nur ein Rinnsal, dann eine Flut. Sobald ich auflegte, klingelte es wieder", erinnert sich Murphy. "Ich habe viele wirklich sehr bedrohliche Anrufe erhalten, also habe ich das Telefon einfach abgestellt."

Murphy ist überzeugt, mit den gekauften Webadressen ein "wirklich mächtiges Werkzeug" in der Hand zu haben, doch die unter seinem Namen registrierten Domains bleiben inaktiv. "Ich habe kein Bedürfnis, sie zu besitzen. Der Sinn dieser ganzen Sache war, dass ich etwas Gutes tun wollte."

Zu den "Reopen"-Protesten hat der Unternehmer aus Florida eine klare Meinung: "Das ist purer Wahnsinn. Die Leute, die im Krankenhaus liegen, sind in einer wirklich schlechten Verfassung. Und die Krankenhäuser wissen nicht, was sie machen sollen. Das Letzte, was wir tun sollten, ist, das Land wieder zu öffnen."

So sah der Protest gegen die Corona-Beschränkungen am 20. April in Pittsburgh ausBild: picture-alliance/AP/Pittsburgh Post-Gazette/A. Rush

Das Wahljahr 2020

Nach Einschätzung des führenden US-Experten für Infektionskrankheiten, Anthony Fauci, könnten in den USA bis zu 200.000 Menschen im Zuge der Corona-Pandemie sterben.

Aktionen wie die der Dorr-Brüder könnten im Wahljahr 2020 die politische Landschaft verändern und sogar den Ausgang der Präsidentschaftswahl im November beeinflussen. Donald Trump zeigt weiterhin viel Verständnis für die oft lautstarken Minderheiten am rechten politischen Rand. Damit unterstützt er auch Menschen wie die waffenliebenden Dorr-Brüder, die sich schon in einem offenen Brief an Trump im Februar 2018 gerühmt hatten, mit der Waffenlobby maßgeblich zu seinem Wahlerfolg beigetragen zu haben.

Redaktionelle Mitarbeit: Helena Kaschel und Sandra Petersmann (DW) sowie Brendan Rivers (WJCT News)

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