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Ost-Berlin vor dem Mauerfall

9. November 2021

Der Fotograf Günter Steffen hielt die letzten Jahre der DDR-Hauptstadt fest. Er zeigt eine verfallende, verlassene Stadt. Wir blicken durch sein Objektiv.

Fotozyklus | Ost-Berlin | von Günter Steffen
Trostlos dystopisch: Ost-Berlin 1984 bis 1989 in den Bildern von Günter SteffenBild: Günter Steffen

Marode Fassaden, verlassene Hinterhöfe, kaputte Autos - so düster und menschenleer sehen die Bilder von Günter Steffen aus, sie sind ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, Zerrissenheit und Trauer. Der Fotograf zeichnet eine Endzeitstimmung, die viele damals in den 1980ern gespürt haben, so auch Günter Steffen: "Ich habe 1984 mit dem Fotozyklus begonnen. Es war das Jahr, in dem Ausreiseanträge von DDR-Bürgern öfter positiv entschieden wurden. In meinem Bekanntenkreis gab es auch einige, die sich gegen die DDR entschieden haben. Viele haben eine fiktive Hochzeit (Anm. d. Redaktion: mit einer Person aus dem Westen, zwecks leichterer Ausreise) als Mittel gewählt, die Seite zu wechseln und auf diesen Hochzeiten habe ich auch fotografiert. Die Stadt wurde immer leerer, das war mein Gefühl. Und so zeigen die Bilder meine innere Stimmung zu jener Zeit", erinnert sich der heute 80-jährige Günter Steffen.

Fotografien von Günter Steffen aus dem Zyklus "Ost-Berlin in den Achtzigern"Bild: Günter Steffen

Die Bilder entstanden meist in den frühen Sonntagmorgenstunden, als die Stadt noch leer war. Es ist ein Zyklus aus schwarz-weißen Fotografien, die zwischen 1984 und 1989 entstanden sind. Mit seiner Praktica-Kamera hielt er den öffentlichen Raum fest - ungewollt erzielte er dabei einen ganz besonderen Foto-Effekt: "Ich hatte mir ein japanisches Objektiv gebraucht besorgt und dachte damit wär ich eigentlich auf der sicheren Seite, aber das war ein Noname-Produkt. Es hatte die Eigenschaft, dass eine Art Schleier über den Bildern abgebildet wurde". Ein Effekt, der die Bilder noch düsterer und dystopischer erscheinen lässt.

Der Verfall ist ein wiederkehrendes Motiv in den Bildern von Günter SteffenBild: Günter Steffen

Günter Steffen: Fotos für die Schublade

Günter Steffen wuchs in Ost-Berlin auf, er studierte Physik, entschied sich dann aber für die Fotografie. Was heute so selbstverständlich klingt, war es damals aber nicht: Der Staat musste noch zustimmen. Steffen musste zunächst einen Antrag bei der Kulturkommission stellen, die einmal im Jahr zusammentrat, samt Arbeitsproben und zwei Bürgen. Ohne diese staatliche Zulassung hätte er nicht frei arbeiten können. Günter Steffen bekam eine Zulassung: "Wenn man irgendwo angestellt war, dann unterlag man einer staatlichen Kontrolle. Ich wollte ein selbstbestimmtes Leben führen", sagt Steffen. Doch so ganz frei war er nicht: Die Bilder des Fotozyklus wurden erst 30 Jahre nach der Wende veröffentlicht: "Als ich die Bilder damals gemacht habe, war mir von vornherein klar, dass die für die Schublade sind. Wie durch ein Wunder sind sie jetzt doch noch ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt worden", freut sich der Fotograf. Auch nach der Wende wollten die Verlage seine Bilder zunächst nicht veröffentlichen, sie würden sogar Betrachter in guter Stimmung herunterziehen, sagten ihm Verleger. Die Stimmung damals nach der Wende war eine andere, eine der Hoffnung und Zukunft, der Freude und Wiedervereinigung.

Das Erbe der sozialistischen Freundschaft Bild: Günter Steffen

Heute, rund 30 Jahre später, ist die Zeit offenbar reif, diese Bilder zu zeigen: Die Ausstellung "Die Hauptstadt - Ost-Berlin in den Achtzigern" ist seit dem 5. November in der Berliner Galerie "argus fotokunst" zu sehen. Begleitend dazu erscheint auch eine 160-seitige Publikation, herausgegeben von Günter Jeschonnek, selbst DDR-Zeitzeuge. Das Buch zeigt Bilder von Günter Steffen und richtet zugleich den Blick auf einen fast vergessenen Roman des russischen Schriftstellers Jewgenij Samjatin.

Die Dystopie der Zeit

"Bei mir entstand die Idee, die Bilder Günter Steffens mit einem literarischen Text zu kombinieren, der diesen Motiven eine weitere Bedeutungsebene verleihen könnte. Die Texte sollten aber die Bilder nicht deuten, sondern ein Spannungsverhältnis aufbauen. In Erinnerung an meine Beschäftigung mit russischer Literatur stieß ich so erneut auf Jewgenij Samjatin und schlug Steffen Texte aus dem Roman "Wir" vor", schreibt der Herausgeber Günter Jeschonnek in seinem Vorwort.

Dieser Roman stand fast 70 Jahre auf dem Index verbotener Bücher in der Sowjetunion, erst 1988 genehmigte der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, die Veröffentlichung des Buches in russischer Sprache. Es ist ein dystopischer Roman aus dem Jahr 1920, der George Orwell zu seinem Klassiker "1984" inspiriert haben muss, denn die Parallelen liegen auf der Hand. 

Die Ausstellung ist bis zum 18. Dezember in der Berliner Galerie "argus fotokunst" zu sehenBild: Günter Steffen

"Wir" schildert ein totalitäres Gesellschaftssystem, das nach einem 200-jährigen Krieg und der "allerletzten Revolution" entstand. Dieser Staat, genannt der "Wohltäter", wird von einer Mauer "geschützt", die Wände der Häuser bestehen aus Glas, der Einzelne zählt nicht, was zählt, ist das Kollektiv. Heerscharen von "Beschützern" wachen über das "Wohl" der Einwohner, die nicht mit ihren Namen, sondern als "Nummern" bezeichnet werden. Wer sich gegen den "Wohltäter" wehrt, wird öffentlich hingerichtet. Der Roman schildert die Ereignisse in Form eines Tagebuchs von D-503, der ein Raumschiff konstruiert, das den Weltraum erobern und die Errungenschaften der "letzten Revolution" exportieren soll.

Auszüge aus "Wir":

[...] im letzten Moment werde ich fromm und dankbar die strafende Hand des Wohltäters mit Küssen bedecken. Ich habe gegenüber dem Einheitsstaat dieses Recht - die Strafe hinzunehmen, und dieses Recht trete ich nie ab. Keine von uns Nummern darf und wird es wagen, auf dieses ihr einziges - und darum umso kostbareres - Recht zu verzichten.

Ich habe alles verziehen. Zusammenstoß von Zügen. Es ist aber nicht eure Schuld - ihr seid krank. Der Name dieser Krankheit: Phantasie. Sie - ist der Wurm, der schwarze Striemen in die Stirn frisst. Sie - ist das Fieber, das euch immer weiter zum Rennen antreibt - selbst wenn dieses "weiter" dort begänne, wo das Glück endet. Sie - ist die letzte Barrikade auf dem Weg zum Glück. Frohlocket also: sie ist nunmehr gesprengt.

Jewgenij Samjatin schrieb diesen Roman beeinflusst von den Ereignissen im Jahr 1917, dem Ende der Zarenherrschaft und der Machtübernahme durch die Bolschewiki unter der Führung von Lenin. Samjatin zählte zu jener Zeit zu den begabtesten Schriftstellern Russlands. Durch seinen kritischen Roman zog er jedoch den Unmut der Parteiführung auf sich und entschloss sich 1931 die Sowjetunion Richtung Paris zu verlassen. Nur sechs Jahre später starb er in Folge eines Herzinfarkts.

Ein Zeitzeuge erinnert sich

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Die Ausstellung "Die Hauptstadt - Ost-Berlin in den Achtzigern" mit Günter Steffens Fotografien ist seit dem 5.11. in der Galerie argus Fotokunst zu sehen. Die begleitende Publikation mit Auszügen aus "Wir" herausgegeben von Günter Jeschonnek ist in Deutsch, Englisch und Russisch bei Hartmann Books erschienen.

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