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Aktivistin aus Russland hilft Gefangenen in der Ukraine

26. Juli 2025

Iryna Krynina ist die erste Russin, die ihren Lebensgefährten in ukrainischer Kriegsgefangenschaft besucht hat. Was ist aus der Beziehung des Paares geworden - und warum will Krynina nicht mehr zurück nach Russland?

Portrait von Irina Krynina
Irina Krynina verurteilt Russlands Krieg gegen die UkraineBild: DW

Irina Krynina verließ im September 2023 Russland - ihre Wohnung in Krasnojarsk, ihr Auto und ihren Job als Buchhalterin. Sie packte ihre Koffer, nahm ihre beiden Töchter im Alter von sieben und zehn Jahren und machte sich auf in die Ukraine, um dort ihren Lebensgefährten Jewgenij Kowtkow zu besuchen. Kowtkow, der nicht der leibliche Vater ihrer Kinder ist, hatte für Russland gegen die ukrainische Armee gekämpft und geriet dabei in Gefangenschaft.

Die Frau hatte eine Urlaubsreise in die Türkei gebucht, flog von dort aber in die Republik Moldau weiter und reiste dann nach Kyjiw. Logistisch unterstützt wurde sie dabei vom Projekt "Ich will leben" des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, das für russische Soldaten eingerichtet wurde, die sich unerkannt freiwillig in ukrainische Kriegsgefangenschaft begeben wollen. Krynina ist die erste Partnerin eines russischen Kriegsgefangenen, die während des Krieges in die Ukraine gekommen ist. Die ukrainischen Behörden gestatten den Ehefrauen russischer Gefangener diese Besuche, um die russische Propaganda zu widerlegen, die Nachrichten über eine angeblich schlechte Behandlung von Kriegsgefangenen in der Ukraine verbreitet. 

Was sind Kryninas Beweggründe?

Krynina sagt, bis 2022 habe sie wenig über die Ukraine gewusst, aber die Annexion der Krim 2014 habe sie schon damals verurteilt. Erst als ihr Lebensgefährte nach seinem Dienst im Hinterland zu echten Kampfhandlungen in die Region Donezk geschickt wurde und schon bald im Juni 2023 in Gefangenschaft geriet, begann sie sich für den Krieg zu interessieren.

"Ich fing an, mir alles anzuschauen und zu lesen. Als mir klar wurde, was wirklich passiert, wollte ich nicht mehr in Russland bleiben", sagt Krynina der DW und fügt hinzu: "Von der russischen Staatsmacht war ich völlig enttäuscht, ich begriff, wer wen angegriffen hat. Ich will nicht, dass meine Familie und Kinder für den Horror verantwortlich gemacht werden, der geschieht. Deshalb bin ich in die Ukraine gegangen, um zu helfen", erzählt Krynina.

Was ist mit Kryninas Lebensgefährten?

Doch in der Ukraine erlebte Krynina eine Enttäuschung. Ihr Lebensgefährte Jewgenij Kowtkow war über ihren Besuch nicht erfreut. In einem Video, das auf dem YouTube-Kanal des Bloggers Wolodymyr Zolkin veröffentlicht wurde, fragt der Mann leise: "Ira, warum?!" Dabei unterdrückt er seine Gefühle, wirkt angespannt und verwirrt.

Irina Krynina in Kyjiw am Ort eines zerstörten WohnhausesBild: DW

Während Krynina vorerst in der Ukraine bleiben will, wartet Kowtkow auf einen Gefangenenaustausch und will nach Russland zurückkehren. Heute ist Krynina nicht mehr mit ihm zusammen. "Ich habe Jewgenij nicht wiedererkannt. Er hat sich sehr verändert, er ist kalt, verschlossen und ängstlich. Krieg und Gefangenschaft verändern Menschen sehr", sagt sie.

Was macht das Projekt "Unser Ausweg"?

In der Ukraine gründete Krynina das Projekt "Unser Ausweg" (Nasch Wychod), über das Angehörige russischer Kriegsgefangener Kontakt zu ihnen aufnehmen können. Der Initiative hat sich die bekannte russische Journalistin Wiktorija Iwlewa angeschlossen, die sich seit 2014 für die Ukraine einsetzt und im März 2022 nach Kyjiw gezogen ist.

Krynina besucht Gefangene in Lagern, nimmt Gespräche mit ihnen auf, überbringt Pakete und ermöglicht ihnen Telefonate. Die Videogespräche dienen den Angehörigen der Gefangenen auch als Beweis dafür, dass sie sich wirklich in Gefangenschaft befinden, sagt sie und fügt hinzu, dass es in Russland schwierig sei, als Kriegsgefangener anerkannt zu werden. Viele gefangene Soldaten würde man einfach als vermisst, tot oder fahnenflüchtig abtun. Andere würden als aktive Soldaten bezeichnet, obwohl zu ihnen kein Kontakt bestehe. Krynina sagt, inzwischen würden unter der Hand selbst russische Einberufungsämter Angehörigen Kriegsgefangener heimlich empfehlen, sich an das Projekt "Unser Ausweg" zu wenden.

Im Januar 2025 organisierte das Projekt beispielsweise eine Reise zweier Ehefrauen zu russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine. "Es war ein eintägiger Besuch. Wir holten sie von der Grenze zur Republik Moldau ab und brachten sie ins Lager, wo sie ihre Ehemänner trafen", erzählt Krynina. Einer dieser Männer ist inzwischen im Rahmen eines Austauschs nach Russland zurückgekehrt. Der andere lehnt einen Austausch ab.

Was sagen die gefangenen Russen?

Der YouTube-Kanal des Projekts "Unser Ausweg" hat über 100.000 Abonnenten. Dort sind hunderte Interviews zu sehen. In ihnen berichten Gefangene von ihrem früheren Leben, über ihre Motivation, einen Vertrag mit der russischen Armee zu schließen, und über ihre Gefangennahme.

Krynina zufolge geraten Männer, die aufgrund von Verträgen mit der Armee aus Gefängnissen entlassen wurden, sehr oft in Kriegsgefangenschaft. "Sie ziehen in den Krieg und hoffen, nicht an die Front zu kommen, sondern irgendwo in der Reserve zu dienen. Sie unterschreiben die Verträge, geraten in den Krieg, werden gefangen genommen und dann sagen sie, dass sie lieber ihre Strafe weiter abgesessen hätten", so Krynina.

Irina Krynina im Gespräch mit der DWBild: DW

Auf dem YouTube-Kanal sind auch Gespräche mit Angehörigen von Russen zu sehen, die nach einem Gefangenenaustausch und einer Rückkehr nach Russland wieder an die Front in die Ukraine geschickt wurden. Krynina rät Betroffenen, Journalisten und Anwälte zu kontaktieren. "Wenn ein Kriegsgefangener nicht für seine Rechte kämpft, nichts einfordert, dann schickt ihn der Staat zurück in den Krieg", so die Gründerin des Projekts "Unser Ausweg".

Trotz des Risikos, dass ehemalige Gefangene wieder auf ukrainischem Boden kämpfen, will Krynina weiterhin helfen, dass russische Kriegsgefangene heimkehren. "Jeder zurückgekehrte Russe bedeutet auch einen zurückgekehrten Ukrainer. Der Austausch muss weitergehen", betont sie.

Hoffen auf ein Ende des Krieges

Kryninas Rolle werde auch darin bestehen, "der Ukraine im Informationskrieg gegen Russland zu helfen", sagte Petro Jazenko vom ukrainischen Koordinierungsstab für Gefangenenaustausche dem ukrainischen Portal "Detector Media" bei der Ankunft der Russin in der Ukraine.

Und Krynina sagt, sie wolle "den Russen zeigen, was wirklich los ist". Dazu reist sie zu Orten russischer Angriffe und nimmt dort Videos auf. Sie glaubt, dass sie wirken: "Eine große Zahl der Angehörigen - wahrscheinlich 99 Prozent - wollen, dass das, was passiert, aufhört. Alle sind dieses Krieges müde, und niemand versteht, warum er immer noch andauert."

Krynina ist überzeugt, dass ihre Videos mit ein Grund sind, dass "Unser Ausweg" im Juli 2025 auf die Liste ausländischer Agenten in Russland gesetzt wurde. Auf die Frage der DW, ob sie sich für die Verbrechen der Russen schuldig fühle, sagt sie: "Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie schießen. Das ist für mich sehr schwer zu ertragen."

Wie geht es Krynina als Russin in der Ukraine?

Viele Russen verurteilen Kryninas Umzug in die Ukraine, doch auch die Ukrainer betrachten sie mit gemischten Gefühlen. Im Frühjahr 2025 ging ein Beitrag einer Kundin eines Kyjiwer Fitnessclubs auf Facebook viral. Sie lernte beim Training Krynina kennen und war empört darüber, dass sich die Bürgerin des Aggressors Russland in der Ukraine frei bewegt. In einigen Kommentaren wurde der Fitnessclub aufgefordert, der Russin den Zugang zu verwehren, in anderen darauf hingewiesen, dass Krynina sich legal im Lande aufhalte.

Krynina selbst sagt, vor ihrem Umzug in die Ukraine habe sie befürchtet, dafür verurteilt zu werden, dass sie Russisch spreche. Doch diese Angst sei unbegründet gewesen. In Kyjiw mietet sie eine Wohnung und ihre Töchter besuchen eine ukrainische Schule. Sie lebt vom Unterhalt ihres Ex-Mannes und arbeitet nebenbei als Buchhalterin. Für das Projekt "Unser Ausweg" engagiert sie sich ehrenamtlich.

Krynina hofft, irgendwann in ein "freies Russland" zurückkehren zu können. Sie sagt, nach dem von Moskau gegen die Ukraine entfesselten Krieg würden die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern nie wieder dieselben sein. "Russland hat dem ukrainischen Volk viel Leid und Not gebracht. Ich denke, die Russen werden sich schuldig fühlen, aber sie werden nichts wiedergutmachen können. Ich weiß nicht, ob die Ukrainer den Russen verzeihen können, was sie getan haben. Es wird Generationen dauern, bis wir überhaupt an Frieden denken können."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

 

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