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Politik

Eingschränkt einsatzfähig

Dennis Stute5. April 2012

2014 werden die NATO-Truppen Afghanistan verlassen. Danach sollen einheimische Soldaten und Polizisten einen Vormarsch der Taliban verhindern. Experten bezweifeln, dass sie dazu in der Lage sein werden.

Afghanische Soldaten in einem Camp (Foto: picture-alliance/Foto Up/Giuliano Koren)
Afghanische Soldaten im Camp StoneBild: picture-alliance/Foto Up/Giuliano Koren
Der ISAF-Sprecher Carsten JacobsonBild: picture-alliance/dpa

"Ich bleibe optimistisch", sagt Carsten Jacobson, Brigadegeneral der Bundeswehr und Sprecher der internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF. Die Rekrutierung und Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte schreite gut voran, die Soll-Stärke von 157.000 Polizisten und 195.000 Soldaten sei fast erreicht und rund die Hälfte der Bevölkerung lebe bereits in Gebieten, die unter afghanischer Sicherheitsverantwortung stünden. "Die afghanischen Sicherheitskräfte haben in den vergangenen Wochen und Monaten bewiesen, dass sie jetzt schon in der Lage sind, mit einer breiten Masse von Aufgaben fertigzuwerden", sagt Jacobson. "So wie es sich jetzt darstellt, werden sie in der Lage sein, 2014 die Verantwortung für das gesamte Land zu übernehmen."

Erstarkte Taliban

Kanadische Soldaten auf dem HeimflugBild: picture-alliance/empics

Es ist schwer, einen unabhängigen Beobachter zu finden, der diese Einschätzung teilt, denn die Lage in Afghanistan gilt als zunehmend unbeherrschbar. "Der Einfluss der Taliban hat sich in den vergangenen vier oder fünf Jahren ausgeweitet", sagt Candace Rondeaux, Analystin der Denkfabrik International Crisis Group in Afghanistans Hauptstadt Kabul. "Wenn das nicht der Fall wäre, wäre die NATO bereit, länger im Land zu bleiben." Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" drückte es Anfang April so aus: "Die Mission ist gescheitert, es geht nur noch darum, Mann und Gerät ohne Verluste wieder außer Landes zu schaffen."

Werbeschild für die afghanische Armee in KundusBild: picture-alliance/Ton Koene

Selbst die Verantwortlichen streuen Zweifel. Auf die Frage, wie viele afghanische Einheiten unabhängig operieren könnten, sagte unlängst der stellvertretende Kommandeur der US-Streitkräfte in Afghanistan, Generalleutnant Curtis Scaparrotti: "Wahrscheinlich ein Prozent." Die meisten Soldaten und Polizisten bleiben gar nicht lange genug dabei, um ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln: Zwischen einem Viertel und einem Drittel der Sicherheitskräfte verabschiedet sich jedes Jahr aus dem Dienst; anders als in vielen Armeen sind die afghanischen Soldaten nicht zum Bleiben verpflichtet.

Tod durch Kameraden

Der ohnehin große Rekrutierungsdruck wird so weiter erhöht. Derzeit durchlaufen jeden Monat 5000 bis 8000 junge Männer die Ausbildung, damit die vorgegebenden Zahlen erreicht werden können. Dass nur wenige der Rekruten während der Ausbildung Notizen machen oder Lehrbücher lesen können, gehört in einem Land mit einer Analphabetenrate von 70 Prozent zum Alltag.

Särge der drei von einem afghanischen Soldaten getöteten Bundeswehrsoldaten (Archivbild von 2011)Bild: picture-alliance/dpa

Die hektische Rekrutierung führt zu massiven Problemen. Ein Schlaglicht darauf wirft die Tatsache, dass immer wieder ISAF-Soldaten von afghanischen Kameraden getötet werden. Allein seit Januar starben nach ISAF-Angaben so 17 Menschen; Anfang 2011 traf es auch drei Bundeswehr-Soldaten. Man arbeite derzeit auch die Fälle der vergangenen Jahre auf, sagt Brigadegeneral Jacobson. "Bisher haben wir keine gezielte Unterwanderung durch die Taliban feststellen können." Die meisten Fälle hätten einen persönlichen Hintergrund gehabt.

Mit der AK-47 zum Einkauf

Das Ansehen der Polizei bei der Bevölkerung sei gering, sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network in Kabul. "Die Nationalpolizei besteht zum Teil aus ehemaligen Milizen der Bürgerkriegszeit, die mit der Kalaschnikow einkaufen gehen und korrupt sind", so Ruttig. "Sie hat - auch in hohen Positionen - einige der übelsten Menschenrechtsverletzer der Vor-Taliban-Zeit in ihren Reihen." Für den Großteil des Polizeiaufbaus ist die NATO verantwortlich. Deutschland beteiligt sich an der Polizeiausbildung zum einen mit dem Deutschen Polizeiprojektteam, dem rund 200 Beamte angehören und zum anderen im Rahmen der EUPOL-Mission mit 50 der 320 europäischen Experten. Während bei der NATO-Ausbildung militärische Fähigkeiten eine große Rolle spielen, setzen die Europäer auf den Aufbau einer zivilen Polizei.

Polizeiausbildung durch deutsche BeamteBild: picture-alliance/dpa

Marco Overhaus, der für die Stiftung Wissenschaft und Politik derzeit an einer Studie zum Thema arbeitet, hält die Einsatzfähigkeit der Nationalpolizei für "ernüchternd" – wie bei der Armee sei auch hier nur ein kleiner Teil der Einheiten ohne internationale Unterstützung zu Operationen fähig. Hinzu komme die schwach entwickelte Justiz: "Eine Polizei kann kaum effektiv arbeiten, wenn sie nicht von einem halbwegs funktionierenden Justizsystem unterstützt wird."

Probleme mit der Dorfpolizei

Wegen all dieser Schwierigkeiten baut die US-Armee deshalb zusätzlich die Afghanische Lokalpolizei (ALP) auf, deren Mitglieder nach einer kurzen Ausbildung mit Waffen ausgestattet werden. Ob diese Dorfmilizen mehr Probleme lösen als schaffen, ist umstritten; oft handeln sie als Partei in lokalen Konflikten. "Die Milizen werden häufig auf ethnischer Grundlage geschaffen und führen in anders-ethnischen Gebieten ein nicht sehr freundliches Regime", sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der ALP illegale Enteignungen, Morde, Vergewaltigungen und andere Verbrechen vor.

Personenkontrolle durch die Polizei in KundusBild: picture-alliance/Ton Koene

Gruppenrivalitäten sind auch in der Nationalarmee ein Problem. So entscheiden sich nur wenige Paschtunen, die die größte Bevölkerungsgruppe des Landes stellen, für den Militärdienst, denn ihre Hauptsiedlungsgebiete sind von den Taliban dominiert. "Die meisten Mitglieder der Nationalarmee gehören den Minderheiten an und sprechen kein Paschtu", sagt Shukria Dellawar vom Center for International Policy in Washington. Ausgerechnet im umkämpften Süden und Osten des Landes sei es deshalb besonders schwierig, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. "Die afghanischen Soldaten werden von vielen als Marionetten der westlichen Regierungen gesehen", sagt Dellawar, die bis 2011 Analysen zu Sicherheitsfragen für das Zentralkommando der US-Streitkräfte erstellt hat.

#video#Während die NATO derzeit bemüht ist, die afghanische Armee und Polizei zu vergrößern, ist bereits klar, dass dafür mittelfristig niemand bezahlen will: Bis 2016 sollen wohl 125.000 Sicherheitskräfte wieder ausgemustert werden – ein gutes Drittel. "Diese Zahlen werden diskutiert", sagt Brigadegeneral Jacobson. "Wie das dann aussieht, wird ein Ergebnis von zukünftigen Gesprächen mit der afghanischen Regierung sein." Sicherheitsexperten verweisen auf die enormen Risiken, die damit verbunden sind, tausende Bewaffnete in ein Umfeld zu entlassen, das kaum Jobperspektiven bietet und von Aufständischen und Banden beherrscht wird.

"Keine Chance gegen die Taliban"

Doch auch ohne diese Verkleinerung ist für Shukria Dellawar klar: "Die afghanischen Sicherheitskräfte haben keine Chance gegen die Taliban." Derzeit werde über einen zehnjährigen Sicherheitspakt verhandelt, der die längerfristige Stationierung von bis zu 20.000 US-Soldaten vorsehe. Wie andere Experten kritisiert Dellawar die Fokussierung auf militärische Fragen. Sie hofft auf eine politische Lösung durch die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban, die derzeit allerdings auf Eis liegen. Sollten sie scheitern, sei ein stabiles Afghanistan schwer vorstellbar, meint sie.

Soldaten der Nationalarmee in KabulBild: picture-alliance/dpa

Dass die Taliban nach 2014 erneut die Macht übernehmen, gilt als unwahrscheinlich. Candace Rondeaux von der Crisis Group hält jedoch ein Szenario für denkbar, in dem die Taliban große Teile des Landes kontrollieren, die Zentralregierung zusammenbricht und das Land zerfällt. "Die Zukunft von Afghanistan lässt sich sehr schwer vorhersagen", sagt Rondeaux. "Aber wenn die derzeitigen Trends anhalten, können wir sicher sagen, dass wir auf einen Bürgerkrieg zusteuern."

Auch der ISAF-Sprecher Carsten Jacobson räumt Unwägbarkeiten ein. "Es gibt hier eine Unmenge von Faktoren, von denen wir noch nichts wissen; zum Beispiel, wie die militärischen Operationen in diesem Jahr verlaufen", sagt Jacobson. Doch im vergangenen Jahr habe es große Erfolge gegeben, zudem sei es gelungen, weit mehr als 3000 "reintegrationswillige" Taliban-Kämpfer zu gewinnen. "Alles in allem sehe ich es so, dass wir 2014 in der Lage sein werden, die Verantwortung in die afghanischen Hände zu übergeben."

Dennis Stute