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Politik

Wie geht es nach Berlins Wahlchaos weiter?

Ben Knight
12. Oktober 2021

Die Schlupflöcher und Unregelmäßigkeiten am Wahltag in Berlin haben viele Beobachter schockiert. Das Ergebnis der Bundestagswahl dürfte zwar nicht betroffen sein, dennoch könnten jetzt rechtliche Konsequenzen drohen.

Bundestagswahl 2021 | Schlange vor einem Berliner Wahllokal
Bild: Hauke-Christian Dittrich/dpa/picture alliance

Chaotische Szenen und peinliche Unregelmäßigkeiten in den Berliner Wahllokalen bei der Bundestagswahl vergangenen Monat haben das Vertrauen in das deutsche Wahlsystem erschüttert und gleichzeitig den vielen Menschen Munition geliefert, die die bürokratische Effizienz der deutschen Hauptstadt in Frage stellen. Am Donnerstag sollen die endgültigen Wahlergebnisse veröffentlicht werden. Das könnte der Startschuss für mehrere Anfechtungsklagen sein.

Am 26. September fanden in Berlin Wahlen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie der Volksentscheid zur Frage einer Enteignung großer Wohnungskonzerne statt. Dabei mussten viele Wähler in der deutschen Hauptstadt stundenlang in den Wahllokalen warten, weil den Wahlhelfern die Stimmzettel ausgegangen waren oder die Stimmzettel in die falschen Bezirke geliefert wurden.

Die Probleme in Berlin waren vorhersehbar gewesen, schon allein durch die mehreren gleichzeitig stattfindenden Wahlen – Wähler blieben oft lange in den Wahlkabinen, um die fünf verschiedenen Wahlzettel durchzugehen. Dennoch wirkten die Helfer in den Wahllokalen unvorbereitet, gezwungen zu Ad-hoc-Maßnahmen, um den Wählerstau zu beheben. Es wurden zusätzliche Wahlkabinen eingerichtet und aus anderen Wahllokalen neue Stimmzettel angefordert - nur um dann festzustellen, dass den Kurieren der Weg durch den internationalen Marathonlauf versperrt war, den die Berliner Behörden am Wahltag stattfinden ließen.

Die allgemeine Verwirrung scheint zu mehreren Verstößen gegen die Wahlvorschriften geführt zu haben: Es gab Berichte, wonach Freiwillige anboten, Menschen hereinzulassen, wenn es ihnen nichts ausmachte, nur für die Bundestagswahl abzustimmen. Andererseits wurden offenbar Wähler abgewiesen, obwohl sie bereits um 18 Uhr, als die Wahllokale offiziell schlossen, in der Schlange standen.

Es gab zwar keine ernsthaften Vorwürfe vorsätzlicher Manipulation, aber das Vertrauen in das Wahlsystem ist erschüttert.

"Ich war, wie wahrscheinlich jeder, ziemlich entsetzt und überrascht, weil in dieser Fülle hat es Fehler oder Nachlässigkeiten bei unseren Wahlen noch nie gegeben – oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern", sagt Christian Pestalozza, Mitglied der Ethik-Kommission des Landes Berlin und Professor der Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin. "Es ist außerordentlich schwerwiegend. Das ist der wichtigste Akt, durch den wir auf die Zusammensetzung der professionellen Politik einwirken können. Darauf haben wir einen Anspruch, dass da keine Fehler gemacht werden, und so eine Häufung von Fehlern ist insofern katastrophal."

Gleich mehrere Wahlen fanden gleichzeitig in Berlin stattBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Kein Einfluss auf Ergebnis

Politische Konsequenzen hat es bereits gegeben. Die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis ist drei Tage nach der Wahl zurückgetreten und hat die Verantwortung für das Fiasko übernommen. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) leitete eine Untersuchung ein, deren erste Ergebnisse er am 6. Oktober in einer Erklärung darlegte. In rund 100 der 2245 Berliner Wahllokale, so Geisel, habe es Vorfälle gegeben, die untersucht werden müssten, insbesondere in drei der bevölkerungsreichsten Bezirke Berlins. Geisel betonte, dass das Gesamtergebnis der Wahl des Abgeordnetenhauses nicht beeinträchtigt sei, schloss aber Neuwahlen in einigen Bezirken nicht aus.

Zur offensichtlichen Erleichterung der Berliner Politiker und Politikerinnen ist es unwahrscheinlich, dass sich das Chaos auf die Bundestagswahl ausgewirkt hat, denn nur bei den Kommunalwahlen gab es von Bezirk zu Bezirk unterschiedliche Wahlzettel. Auch der scheidende Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), betonte, dass die Probleme keinen Einfluss auf das Ergebnis der Berliner Landtagswahl hätten, räumte aber auf einer Pressekonferenz vergangene Woche ein: "Wir dürfen nicht drum herumreden: Es hat Fehleinschätzungen gegeben und Fehlplanung." Ein Sonderausschuss des Senats war am vergangenen Freitag zusammengekommen, um das Thema zu diskutieren. 

Rechtliche Konsequenzen

Doch welche rechtlichen Schritte können nach dem 14. Oktober, wenn die Wahlergebnisse feststehen, drohen? Kandidierende und Parteien (jedoch nicht Wähler und Wählerinnen), die der Meinung sind, dass es genügend Gründe gibt, das Ergebnis anzufechten, könnten dies tun und bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. 

Die Gerichte müssten dann entscheiden, ob die Fehler das Gesamtergebnis beeinflusst haben könnten. "Dazu müsste man genau wissen, was ist alles an Fehlern passiert, und wie viele Wahlberechtigte waren davon betroffen", sagt Pestalozza. "Dann müsste es eventuell Neuwahlen geben, aber nicht flächendeckend, nicht in ganz Berlin, sondern immer nur begrenzt auf den Bereich, zum Beispiel den Wahlbezirk, in dem der Fehler passiert ist." 

Rechtliche Schritte werden aber auch durch einen Mangel an Vorschriften behindert. Wilko Zicht, der den unabhängigen Internetdienst "Wahlrecht" betreibt, sagt, das Problem liege darin, dass in Deutschland keine klaren Neuauszählungsregeln existieren. "Anderenorts, in den USA zum Beispiel, ist es meist so, immer wenn es weniger als ein halbes Prozentpunkt Abstand gibt, gibt es eine obligatorische Neuauszählung", so Zicht. "In Deutschland kann mit einer einzigen Stimme Vorsprung niemand verlangen, dass es alles neu ausgezählt wird. Es geht nur dann, wenn man klare Verfahrensfehler nachweist."

Schlupflöcher bleiben - trotz Warnungen

Soweit ist es in der deutschen Hauptstadt noch nicht gekommen. Aber noch schwerer als die Fehler, die am Wahltag begangen wurden, wiegt womöglich das Schlupfloch, das sich Minderjährigen bot, die nicht wahlberechtigt waren, an der Bundestagswahl teilzunehmen. Denn nach dem 26. September wurde bekannt, dass Bundeswahlleiter Georg Thiel seine Berliner Amtskollegin - die inzwischen ausgeschiedene Petra Michaelis - vor einem möglichen Missbrauch gewarnt hatte.

Das Problem lag darin, dass bei den Kommunalwahlen mehr Menschen wahlberechtigt waren als bei den anderen Wahlen: nicht nur deutsche Staatsbürger über 18 Jahre, sondern auch EU-Bürger über 16 Jahre. Dennoch mussten laut den Vorschriften die Briefwahlunterlagen für alle drei Wahlen in einen einzigen Umschlag gesteckt werden.

Dies bedeutete, dass Personen über 18 Jahren zwar eine Briefwahl beantragen konnten, ihre Stimmzettel aber an EU-Bürger über 16 Jahren weitergeben konnten, die ebenfalls eine Briefwahl beantragt hatten und die Zettel in ihren eigenen Umschlag stecken konnten. In der Zwischenzeit würde die Person, die über 18 Jahre alt ist, gar nicht per Post wählen, sondern einfach am Wahltag zur Wahlurne gehen.

Dank der Warnungen von sowohl Thiel als auch "Wahlrecht" bemühten sich die Berliner Behörden, den Fehler einige Tage vor dem Wahltag zu korrigieren, indem sie die örtlichen Wahllokale aufforderten, ihre Verfahren zu ändern, um diesen Betrug während der Auszählung zu verhindern. Ein weiteres Schlupfloch, das es im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen ermöglichte, mit demselben Trick an Kommunalwahlen teilzunehmen, wurde jedoch nicht rechtzeitig geschlossen.

Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Schlupfloch in einem Ausmaß genutzt wurde, das das Ergebnis beeinflusst hätte. Aber allein die Tatsache, dass es existierte, könnte den unterlegenen Kandidierenden und ihren Anwälten viel Munition liefern, wenn die endgültigen Ergebnisse am Donnerstag veröffentlicht werden.

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