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Wie Geisterspiele den Fußball verändern

29. Mai 2020

Nach drei "Geisterspieltagen" in der Bundesliga haben sich noch längst nicht alle an Partien ohne Zuschauer im Stadion gewöhnt. Der Heimvorteil scheint verloren, die Emotionen sowieso. Doch es gibt auch Profiteure.

Borussia Dortmund - FC Schalke 04
Bild: picture-alliance/augenklick/H. Buese/dpa/firo

Stell dir vor, es ist Revierderby, und keiner geht hin! Unvorstellbar war es noch zu Beginn der Rückrunde, dass ein Duell zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04 ohne Zuschauer stattfinden könnte. Oder wenig später das deutsche Topspiel zwischen dem BVB und dem FC Bayern. Statt vor bis zu 80.000 Fans kicken die Mannschaften nun vor leeren Rängen. Und das macht sich deutlich bemerkbar - nicht nur in der fehlenden Lautstärke.

Sehr laut und sehr hitzig geht es normalerweise bei Derbys zu. Schiedsrichter Deniz Aytekin, Leiter der Partie zwischen dem BVB und Schalke, gab danach im ZDF-Sportstudio zu Protokoll, dass ihm die Emotionen spürbar gefehlt hätten: "Ich muss zugeben, dass ich beim Derby Pulswerte hatte, die extrem niedrig waren, im Vergleich zu den Spielen mit Zuschauern." Weniger Emotionen von den Rängen bedeuten für die Schiedsrichter aber auch weniger Druck und mehr Ruhe bei den Entscheidungen. Und diese werden - so scheint es nach drei Spieltagen vor leeren Rängen - durchaus bereitwilliger von Spielern und Trainern akzeptiert. Es gibt weniger Lamentieren, Schauspielerei und Rudelbildung sowie mehr Geduld bei Videobeweisen. 

Mehr Respekt für die Schiedsrichter

Auch DFB-Schiedrichterchef Lutz Michael Fröhlich hat eine größere Akzeptanz für die Entscheidungen der Unparteiischen beobachtet: "Das lief alles sehr sachlich ab, zum Teil zwar auch nicht unbedingt im Konsens, aber doch deutlich gestenärmer und mit sichtbar mehr Respekt voreinander", erklärte Fröhlich auf "dfb.de": "Mein erster Eindruck ist, dass sich alle ganz ursprünglich auf den Sport und ihre Aufgaben im Spiel fokussiert haben." 

Weniger Rudelbildung - Schiedsrichter haben es vor leeren Rängen offenbar leichterBild: picture-alliance/M.i.S. via GES-S/C. Mueller

Das könnte aber auch daran liegen, dass jeder weiß, dass die Mikrofone jedes Wort einfangen, vermuten die Experten vom Schiedsrichter-Podcast "Collinas Erben". Die Schiedsrichter seien vorab mit Videokonferenzen auf die neue Situation vorbereitet und sensibilisiert worden. "Wenn kein Publikum da ist, das sich gegen den Unparteiischen aufbringen lässt und ihn somit auch nicht beeinflussen kann, sparen sich manche Spieler ganz offensichtlich das Reklamieren, Debattieren und Simulieren", sagt Alexander Feuerherdt von "Collinas Erben" der DW.

Am dritten "Geisterspieltag" habe es allerdings bei den Spielen in Dortmund, Bremen und Sinsheim bei strittigen Entscheidungen schon ein wenig anders ausgesehen. Da sei der Schiedsrichter kritisiert worden, sagt Feuerherdt, der in Köln auch Schiedsrichter aus- und fortbildet. "Ob das eine Trendwende ist, wird man sehen." Insgesamt würden aber auch die Schiedsrichter Spiele ohne Zuschauer nicht besonders mögen, "weil ihnen die Atmosphäre und die Leidenschaft fehlen, das hat Deniz Aytekin ja noch einmal sehr deutlich gesagt".

Heimvorteil dahin

Nur fünf Heimsiege gab es in den 27 Partien der drei "Geisterspieltage". RB-Leipzig-Trainer Julian Nagelsmann weiß, woran das liegen könnte: "Wenn die Fans nicht da sind, ist der klassische Heimvorteil weg." Ähnlich formuliert es BVB-Sportdirektor Michael Zorc: "Für uns ist es definitiv ein Nachteil, ohne Zuschauer zu Hause zu spielen." Auf die berüchtigte Südtribüne zu spielen, "löst bei uns was aus, und es löst auch beim Gegner etwas aus. Das fehlt."

Der aktuell ungewöhnliche Rahmen der Bundesligaspiele stößt auch in der Wissenschaft auf besonderes Interesse. So hat eine Forschergruppe um Wirtschaftsprofessor James Reade von der englischen University of Reading eine Studie veröffentlicht, in der 192 Geisterspiele in Europa seit 2002 untersucht wurden. Die Forscher ermittelten, dass nur 36 Prozent der Heimspiele gewonnen wurden, mit Zuschauern seien es historisch betrachtet 46 Prozent. In 34 Prozent der Fälle gab es Auswärtssiege, normal seien 26 Prozent. "Heimmannschaften erzielen weniger Tore und gewinnen weniger Spiele. Auswärtsmannschaften erhalten von den Schiedsrichtern im Schnitt fast eine halbe Gelbe Karte weniger", heißt es in der Studie. 

Bayer Leverkusen ging im Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg mit 1:4 unter - fehlten der Werkself die Fans?Bild: picture-alliance/Ulrich Hufnagel

Professor Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule in Köln, gibt gegenüber dem "Sportinformationsdienst" allerdings zu bedenken, dass es sich nach 27 Spielen um eine "Momentaufnahme" mit "zu vielen Störfaktoren" handele. Der Heimvorteil sei außerdem schon in den Jahren vor Corona deutlich kleiner geworden. Für statistisch relevante Aussagen, so Memmert, bräuchte es mindestens eine ganze Saison mit Geisterspielen. Das legt auch das Gegenbeispiel 2. Liga nahe: Dort gab es an den ersten drei Spieltagen in 24 Begegnungen zehn Heimsiege. Das entspricht vergleichsweise normalen 41,7 Prozent.

BVB-Profi Mats Hummels sieht ebenfalls keine Wettbewerbsverzerrung. Natürlich seien leere Ränge zunächst durchaus ein Nachteil für die Heimmannschaft, aber andererseits gebe es für alle Teams auch Spiele, "die wir jetzt auswärts ohne gegnerische Fans spielen", sagte Hummels dem Bayerischen Rundfunk. Für alle gelten die gleichen Rahmenbedingungen. "Deshalb ist es - in Anführungsstrichen - ein fairer Wettbewerb."

Akustik spielt plötzlich eine große Rolle

Hummels: "Kommunikation ist leichter"Bild: picture-alliance/J. Fromme

Einen deutlichen Unterschied macht das Fehlen der Fans bei der Akustik auf dem Platz. Hummels sieht das sogar als Vorteil für die Kommunikation auf dem Rasen und an der Seitenlinie. "Man bekommt viel mehr Kommandos, man kann viel mehr Kommandos geben. Wenn bei uns bei Heimspielen über 80.000 laut sind, dann komme ich keine zehn Meter weit mit meinem Ruf." Er könne dann niemals den offensiven Mittelfeldspieler oder gar den Stürmer mit seinen Anweisungen erreichen.

Wie unterschiedlich die Akustik in den einzelnen Stadien ist, wurde auch für Werder Bremens Trainer Florian Kohfeldt deutlich: "Ich fand, dass die Akustik in Freiburg eine ganz andere war als im Weserstadion." In Freiburg sei es möglich gewesen, "die Spieler über den ganzen Platz zu erreichen", während in der heimischen Arena nur die Profis nahe der Trainerbank die Anweisungen zuverlässig verstehen könnten, da es dort sehr halle.

Weniger Unterbrechungen - bessere Spielqualität?

Trainer-Ikone Ottmar Hitzfeld hat zudem eine deutliche Steigerung der Spielqualität festgestellt, weil es "mehr Spielfluss und weniger Foulspiele gibt". Davon profitiere der Fußball, sagte der 71-Jährige im Interview mit den Internetportalen "Spox" und"Goal": "Gerade in einem Hexenkessel entscheidet oft die mentale Stärke über den Spielausgang. Das fällt jetzt komplett weg." Ebenso seien "Trainingsweltmeister" im Vorteil, "weil sie nicht mehr so unter Druck stehen", ergänzte Hitzfeld.  

Geisterspiele im Fußball sind und bleiben gewöhnungsbedürftig. Doch auch wenn ein Großteil der Fans sie naturgemäß kategorisch ablehnt, scheint es in Sachen Spielfluss und -qualität sowie Respekt auf dem Platz durchaus positive Nebeneffekte zu geben. 

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