Wie hoch sind die Opferzahlen im Gazastreifen wirklich?
2. Juli 2025
In Studien geht es meist um Zahlen und Daten, um wissenschaftliche Methoden und Hochrechnungen. So auch bei der jüngsten Untersuchung zu Kriegstoten in Gaza, die Michael Spagat vom Royal Holloway College der Universität London geleitet hat. Diese geht davon aus, dass bis Anfang Januar dieses Jahres mehr als 80.000 Palästinenser in Israels Krieg in Gaza getötet wurden.
Doch eines ist dem Kriegs- und Konfliktforscher wichtig: "Am Ende geht es darum, dass an jedes einzelne Opfer erinnert wird." Dass die Namen der Toten in Listen geschrieben werden, so wie es aktuell nur das Gesundheitsministerium in Gaza könne. Spagat hält die Listen für "weitgehend korrekt" - auch wenn das Ministerium von der Hamas kontrolliert wird, die von der EU, den USA und anderen als Terrororganisation eingestuft wird.
"Das Gesundheitsministerium in Gaza listet die Namen der Toten mit Identifikationsnummer, Alter und Geschlecht auf. Das lässt sich gut überprüfen." Das ist bereits geschehen: Im Februar dieses Jahres veröffentlichten Wissenschaftler im Magazin Lancet eine Studie, die beispielsweise Nachrufe auf Social Media mit den Listen des palästinensischen Gesundheitsministeriums abglich - und zu dem Ergebnis kam, dass auf der Liste des Ministeriums in Gaza keineswegs Namen hinzugefügt worden waren, sondern im Gegenteil Namen fehlten. Bereits diese Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass die Zahlen aus Gaza deutlich zu niedrig sein dürften.
Feldforscher in Gaza führten die Befragung durch
Nun liegt erstmals eine Studie vor, die völlig unabhängig von den Listen des Gesundheitsministeriums in Gaza durchgeführt wurde. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Michael Spagat befragten Menschen nach den Verstorbenen aus ihrem Haushalt. Dafür arbeiteten die Forscher aus Europa mit palästinensischen Kollegen des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) zusammen. Die unabhängige Forschungsorganisation unter der Leitung des Politikwissenschaftlers Khalil Shikaki wird unter anderem von privaten Stiftungen und der Europäischen Union gefördert. Sie hat ihren Sitz in Ramallah im Westjordanland, verfügt aber auch über erfahrene Mitarbeiter im Gazastreifen.
"Wir mussten nicht nach Gaza reingelassen werden. Wir waren bereits da", erläutert Spagat die Datenerhebung in dem akuten Kriegsgebiet, in das - mit Ausnahme von wenigen Hilfsorganisationen - die zuständige israelische Behörde COGAT kaum jemanden hineinlässt. Auch internationalen Journalisten verwehrt Israel seit Kriegsbeginn die Einreise. "Zum Glück wurde bislang keiner unserer Feldforscher getötet. Alle Mitarbeiter der Studie leben."
Die Feldforscher sprachen mit 2000 Haushalten, die repräsentativ sind für die Bevölkerung von Gaza vor dem Terrorangriff des 7. Oktober 2023. Gebiete, die von der israelischen Armee als Kampfzonen abgeriegelt waren, konnten sie nicht betreten. Da jedoch ein Großteil der Bevölkerung Gazas vertrieben ist, konnten die Forscher an Orten wie dem Zeltlager Al-Mawasi mit Menschen sprechen, die ursprünglich aus dem Norden des Gazastreifens oder aus Rafah stammen.
Tod durch Mangelernährung und Krankheiten
Ihr Ergebnis: Im Zeitraum zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 5. Januar 2025 liegt die Zahl direkter Kriegstoter bei etwa 75.200. Vergleicht man diese Zahl mit der des Gesundheitsministeriums - 45.805 Tote für denselben Zeitraum - wird deutlich: Die Forscher des Teams von Spagat und Shikaki belegen, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer etwa 60 Prozent höher liegt als die des Gesundheitsministeriums in Gaza. Damit wäre seit Beginn des Krieges im Gazastreifen mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern etwa jeder 25. Mensch getötet worden.
Hinzu kommt die Zahl sogenannter "indirekter Kriegstoter", also all jener, die unter den Umständen des Krieges durch Mangelernährung oder Krankheit gestorben sind - abzüglich der Anzahl von Menschen, die auch unabhängig von der Kriegssituation an Alter oder Krankheit gestorben wären. Indirekte Kriegstote schätzen die Forscher auf 8540 für den genannten Zeitraum.
Das ist eine wesentlich niedrigere Zahl als zuvor von Beobachtern vermutet. Eine Studie in The Lancet war schon im Juli 2024 davon ausgegangen, dass auf jeden gezählten Toten vier weitere indirekte Kriegstote hinzugezählt werden müssten. Hilfsorganisationen warnen seit Monaten davor, dass Zivilisten in Gaza an Mangelernährung und Krankheiten sterben könnten - die Rede war vielfach von Zehntausenden indirekten Kriegstoten.
Spagat führt die geringere Zahl auf die junge und vor dem Krieg weitgehend sehr gesunde Bevölkerung Gazas zurück mit einem "dank der UN und vieler Hilfsorganisationen" guten Gesundheitssystem und hoher Impfrate. Die Zahl sei im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten auch keinesfalls niedrig. "Unsere Zahlen zeigen, dass die Hilfsorganisationen einen sehr guten Job gemacht haben, die Bevölkerung bislang am Leben zu halten."
Er weist darauf hin, dass die Studie noch vor der elfwöchigen kompletten Blockade Israels von Hilfslieferungen nach Gaza durchgeführt wurde. "Die Menschen in Gaza sind unterernährt. Wenn Krankheiten ausbrechen, kann es ganz schnell gehen. Selbst wenn es nächste Woche einen Waffenstillstand gäbe und dieser hielte, würde die Zahl der indirekten Toten noch einmal in die Höhe schnellen. Unsere Zahlen sind nicht final."
Unabhängig - also von nicht beteiligten Wissenschaftlern - begutachtet wurde die Studie jedoch noch nicht. Es handelt sich um einen sogenannten Preprint. Auch daher können die Zahlen nicht als final betrachtet werden. Die Aussagen decken sich aber mit der in der Fachzeitschrift Lancet erschienen Studie, die die Liste der Namen des Gesundheitsministeriums in Gaza überprüfte.
Kann man Zahlen der Hamas verwenden?
Mit anderen Methoden, aber einem ähnlichen Ziel gingen auch die Forscher um Spagat und Shikaki vor. Sie wollten überprüfen, ob jene Institution, die täglich neue Tote im Gazastreifen zählt, als verlässliche Referenz verwendet werden kann: das Gesundheitsministerium in Gaza, das von der Hamas kontrolliert wird.
"Wir zeigen eindeutig, dass sie die Todeszahlen nicht übertreiben. Die Studie weist darüber hinaus darauf hin, dass sie ein realistisches Bild von der Demographie der Todesopfer vermitteln. Der Prozentsatz an Frauen, Kindern und Alten, den wir errechnet haben, stimmt ziemlich genau mit den Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza überein."
Der Studie zufolge sind mehr als 30 Prozent der direkten Toten Kinder unter 18 Jahren. Weitere 22 Prozent sind Frauen, etwa vier Prozent Menschen über 65. Die meisten Toten sind männlich und zwischen 15 und 49 Jahre alt. Bedeutet dies, dass tatsächlich sehr gezielt Kämpfer getötet wurden?
100.000 Tote - eine schier unfassbare Zahl
"Nein", sagt Spagat. "In Kriegen werden immer junge Männer am häufigsten getötet." Die Studie unterscheidet - wie auch das Gesundheitsministerium in Gaza - nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten. "Wir hätten unsere Feldforscher gefährdet, wenn sie danach gefragt hätten, ob in dem Haushalt Hamas-Mitglieder leben." Man hätte sie verdächtigen können, Agenten des israelischen Geheimdienstes zu sein, so Spagat. Also wurden diese Daten nicht erhoben.
Spagat betont: "Wir haben eine sehr große Anzahl getöteter kleiner Kinder, die außerordentlich ist." Er zögere bei Vergleichen, aber "in Gaza wurden vier Prozent der Bevölkerung getötet. Dies haben wir bislang in keinem anderen Krieg des 21. Jahrhunderts gesehen."
Rechnet man die Zahlen der Studie von Spagat und Shikaki auf den jetzigen Zeitpunkt hoch, landet man schnell bei 100.000. Eine schwer vorstellbare Zahl an Toten, hinter denen Namen und Geschichten von Menschen stehen. Einige von ihnen kennen wir. Wie die der Familie al-Najjar. Die Kinder Yahya, Rakan, Ruslan, Jubran, Eve, Rivan, Saydeen, Luqman und Sidra wurden am 23. Mai 2025 bei einem israelischen Luftangriff auf Chan Junis getötet. Die Mutter überlebte, weil sie als Ärztin Dienst im Krankenhaus hatte. Einziger Überlebender des Angriffs war ihr elfjähriger Sohn Adam. Der Vater der Kinder, der Arzt Hamdi al-Najjar, verstarb wenige Tage später an den Folgen des Angriffs. Ihre Namen gingen - im Gegensatz zu denen der meisten Toten - um die Welt.