Indien: Jugend entdeckt Spiritualität neu
4. August 2025
Rohit Singh stammt aus einer Hindu-Familie. Der 24-Jährige bezeichnet sich jedoch nicht als religiös. Er geht zwar schon mal in den örtlichen Hindu-Tempel, besucht aber auch den Gurudwara, das Gebetshaus der Sikhs, das allen offensteht. Ende Juli ging er mit seinen Cousins auf eine Pilgerreise, die sogenannte Kanwar Yatra, die einem der Hindu-Hauptgötter gewidmet ist: Shiva, dem Glückverheißenden.
"Ich bin nicht religiös. Aber ich lebe ein spirituelles Leben", sagt Singh. "Ich gehe nicht so oft in den Tempel wie meine Eltern; manchmal nur, um die ruhige und friedliche Atmosphäre zu genießen und den inneren Frieden zu finden. Alles hat damit angefangen, als ich keine Arbeit fand und es mir psychisch schlecht ging."
Singh lebt in Gurugram, einer Trabantenstadt vor den Toren der Hauptstadt Neu-Delhi. Noch immer hat er keine Arbeit gefunden. Aber er sagt, dass seine Spiritualität seiner psychischen Gesundheit geholfen habe. "Viele meiner Freunde sind wie ich. Wir wollen einfach nur Trost."
Religion ist beliebt
Das Interesse an Religionen nimmt weltweit ab. Eine Studie des Pew Research Center ergab, dass weltweit die Anzahl der gläubigen Menschen in den Jahren zwischen 2010 und 2020 um ein Prozent zurückgegangen ist. Im gleichen Zeitraum war der Anteil der Menschen, die sich zu keiner Religion bekennen, um 1,2 Prozentpunkte auf 24,2 Prozent gestiegen.
Indien ist mit 1,4 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Welt. 80 Prozent davon sind Hindus. Weitere 14 Prozent sind Muslime. Nach der letzten Volkszählung betrug das Median-Alter etwa 27 Jahre. Indien ist somit ein Land mit einer jungen Bevölkerung. Diese Generation des digitalen Zeitalters, auch "Generation Z" genannt, scheint - im Gegensatz zu vielen anderen Ländern weltweit - eine Verbindung zu Glauben zu finden. Aber sie tun dies auf ihre eigene Weise.
Eine Umfrage von YouGov-Mint ergab, dass 53 Prozent der indischen Generation Z (Jahrgang 1997 bis 2012) die Religion für wichtig halten und 62 Prozent von ihnen regelmäßig beten. Nach der MTV-Jugendstudie 2021 glauben 62 Prozent der indischen Generation Z, dass ihnen die Spiritualität helfe, Klarheit zu gewinnen. Fast 70 Prozent gaben an, dass sie sich nach dem Gebet selbstbewusster fühlen.
Neue Channels zur Spiritualität
"Die Generation Z verfügt über ein breites Spektrum an Vokabular, mit dem sie ihre Gefühle ausdrückt, was sie von früheren Generationen unterscheidet", erklärt Psychologin Manavi Khurana im DW-Interview. "Begriffe wie Heilung, Erdung, Kontakt zum Selbstbild, Spiritualität, Religion, Wellness und Wohlbefinden werden alle miteinander vermischt. Sie haben Gemeinsamkeiten, in der Bedeutung, jedoch auch feine Unterschiede."
Khurana ist Gründerin der Organisation für psychische Gesundheit "Karma Care" in Delhi. Zu Beratungen kommen jungen Menschen wie die Millennials (Jahrgang 1981 bis 1996) und die Generation Z. "Angesichts des aktuellen politischen Klimas gibt es auch viele Menschen, die sich dem Hinduismus zuwenden", sagt Khurana. In Indien regiert seit 2014 die hindu-nationalistische Partei BJP um Premier Narenda Modi.
"Viele Menschen finden Trost in der Religion. Wenn sie die Hoffnung völlig verloren haben, finden sie Glauben, bestimmte magische Formeln, Mantras genannt, oder Glaubenssätze, die ihnen helfen, die Hoffnung wiederzufinden. Möglicherweise haben sie auch keine wirklichen Alternativen", sagt Khurana. "Es ist natürlich schlecht, wenn Spiritualität zu Extremismus führt. Aber wenn man sie als Mittel nutzt, um mit dem eigenen Gewissen ins Reine zu kommen, dann ist sie sehr wichtig."
Weniger Gebet, mehr Pilgerfahrten
Surya ist 27 Jahre alt. Sie ist Reise-Influencerin mit mehr als 290.000 Followern auf Instagram. Viele ihrer Reisen sind spirituell geprägt. Surya hat eine Reihe wichtiger hinduistischer Pilgerstätten und Festivals besucht. Soziale Medien und Influencer hätten nicht nur die Türen zum Glauben für die jüngeren Generationen aufgemacht. Es stecke noch mehr dahinter.
"Der Glaube wird nicht mehr als langweilig oder als altmodisch für ältere Menschen angesehen. Religion wird zu einem Weg, um Ordnung in einem chaotischen modernen Leben zu finden", sagt Surya der DW. "Die Jugend von heute fragt sehr intensiv nach dem 'Warum', erforscht das 'Wie' und nimmt das an, was sie persönlich anspricht. Anstatt Tempel zu besuchen, nur weil sie glauben 'müssen', pilgern sie lieber zu heiligen Stätten, zum Beispiel nach Varanasi, der heiligsten Stadt des Hinduismus, oder nach Rishikesh, der Yoga-Hauptstadt, um Glauben zu 'erleben'."
Regierung bewirbt Hinduismus
Die Jugend in Indien soll nach Wunsch vom Premier Modi "ihre Traditionen, ihren Glauben und ihre Überzeugungen" mit Stolz annehmen. "Das bringt eine starke Verbindung zum kulturellen Erbe Indiens zum Ausdruck", sagt Modi im indischen Parlament. Das größte religiöse Fest der Welt, Kumbh Mela mit hunderten Millionen Teilnehmern, hätten in diesem Jahr viele Jugendliche zum ersten Mal besucht. Durch ein Bad im heiligen Fluss Ganges sollen die Gläubigen von Sünden befreit werden.
Die Regierung von Modi stellt viel Geld für die Restaurierung hinduistischer Stätten zur Verfügung. Die von der BJP regierten Bundesstaaten wie Uttar Pradesh und Maharashtra haben ebenfalls Pläne angekündigt, religiöse Denkmäler von historischer und mythologischer Bedeutung zu renovieren. Damit will die BJP mehr junge Menschen für den hinduistischen Glauben gewinnen, auch über soziale Medien.
Messaging anstatt Messe
Die "richtige" Spiritualität im sozialen Netzwerk zu finden, ist eine große Herausforderung. Zu viele Fake News sind in Umlauf. Für Psychologin Khurana ist die Pauschalaussage, die Beziehung der Generation Z zu Religion oder Spiritualität sei „gefühls-unecht", allerdings falsch.
"Nur weil viele der Generation Z über Instagram oder das Internet kommunizieren und dies ihre Art der 'Glaubensgemeinschaft' ist, können wir dies nicht einfach als performativ abtun. Es ist nun mal so, dass diese jungen Menschen mit Smartphones aufgewachsen sind."
Laut einer Umfrage von OMTV, einer spirituellen Storytelling-App, aus dem Jahr 2023 beschäftigen sich 80 Prozent der Inder im Alter von 18 bis 30 Jahren online mit spirituellen oder religiösen Inhalten.
"Die Welt der Generation Z ist lauter und schneller als je zuvor. Daher sehen ihre Einstiegspunkte in die Spiritualität anders aus. Sie lesen vielleicht nicht die ganzen Texte. Sie verbringen aber lieber 60 Sekunden mit einer Lesung über die Weisheiten aus der Hauptschrift des Hinduismus Gita. Sie beten vielleicht nicht stundenlang in einem Tempel, aber sie machen abends eine 10-minütige Meditation. Das ist nicht weniger Glauben. Es ist Glaube der modernen Zeit."
Aus dem Englischen adaptiert von Dang Yuan