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Politik

"Ich dachte immer, sie werden schon kommen"

Marina Strauß | Austin Davis
9. Juli 2019

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnten 10.000 meist jüdische Kinder mit Zügen nach England fliehen. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder. Ein Zeitzeuge erzählt, warum ihre Geschichte immer noch aktuell ist.

Berlin Juden Kindertransporte nach London
Drei jüdische Kinder aus einem Kindertransport warten im Juli 1939 an der Liverpool Street Station in LondonBild: Getty Images//Stephenson

Als Ralph Mollerick an einem Dezembertag im Jahr 1938 in Hamburg in den Zug steigt, weiß er nicht, wo die Reise hingehen wird. Ihm ist nicht bewusst, dass er bald eine neue Sprache wird lernen müssen. Und warum seine Eltern nicht auch mit an Bord sind, bleibt ihm ebenso verborgen. Mollerick ist damals acht Jahre alt, ein jüdisches Kind aus einer kleinen Stadt im westdeutschen Bundesland Hessen auf dem Weg nach England. Eine Reise, die ihn retten, und gleichzeitig schwer traumatisieren wird.

"Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen", sagt Mollerick in Berlin, 80 Jahre später. Im Zug damals versichert ihm seine ältere Schwester, die Eltern würden nachkommen, sie abholen und dann zusammen mit ihnen nach Amerika auswandern.

"Das ist nie passiert", sagt Mollerick. Er dachte damals immer, sie werden schon kommen, aber sie haben es nie getan. "Sie konnten es nicht."

Ralph Mollerick kommt aus einer hessischen Kleinstadt und lebt heute in FloridaBild: DW/S. Eichberg

Mollerick ist eines von 10.000 meist jüdischen Kindern, die zwischen 1938 und dem Kriegsausbruch ein Jahr später nach Großbritannien fliehen konnten. Nach den Pogromen im November 1938 hatten jüdische Hilfsorganisationen dafür gekämpft, dass die britische Regierung Kinder und Jugendliche einreisen lässt. Die stimmte zu, aber nur unter der Prämisse, dass alle Kosten privat abgedeckt würden.

Am Anfang fanden die Kinder Unterschlupf in großen Unterkünften, später in Pflegefamilien: Eine Hilfsaktion zu einer Zeit, als viele Länder in ihrer Aufnahmepolitik so restriktiv waren, dass von Nazis Verfolgte kaum noch Zuflucht fanden.

Ein Reise in die Vergangenheit 

Ralph Mollerick ist zum 80. Jahrestag seiner Flucht mit drei anderen Überlebenden und einigen Angehörigen über Wien nach Berlin gereist. Nach dem Abstecher in der deutschen Hauptstadt zieht die Gruppe weiter über Amsterdam nach London. Es ist eine Reise zurück in die Vergangenheit, aber auch eine, die vielen bewusst macht, wie sehr das, was war, sich noch auf das, was ist, auswirkt.

Melissa Hacker weiß das sehr gut. Sie hat die Reise organisiert. Ihre Mutter war selbst ein "Kind" aus Wien, ein Wort, das sie auch auf Englisch in ihre Sätze schiebt. Als Präsidentin des Kindertransport-Vereins in New York setzt Hacker sich dafür ein, dass das starke Band zwischen den "Kindern" untereinander und auch zwischen deren Nachkommen erhalten bleibt. 

Melissa Hacker setzt sich für minderjährige Geflüchtete ein - auch als Hommage an ihre MutterBild: DW/S. Eichberg

Hacker selbst hatte erst nach und nach erfahren, was ihre Mutter durchmachen musste, und auch, dass sie eben nicht das einzige Kind war, das damals ohne Eltern nach Großbritannien gebracht wurde. "Meine Mutter hatte eine komplizierte Beziehung zu Wien. Sie mochte die Süßigkeiten, die Oper, die Teile der Stadt, in denen sie aufwuchs, aber sie war zutiefst misstrauisch den Menschen gegenüber", sagt Hacker, während sie zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin steht. Nur eine der vielen Stationen auf ihrer Erinnerungstour durch Europa. Aber eine der eindrücklichsten, auch für Hacker.

Sie finde, es sei wichtig, Brücken zu bauen und sich gleichzeitig daran zu erinnern, was passiert sei. Hacker ist eine positive Frau, sie engagiert sich für minderjährige Geflüchtete - auch als Hommage an ihre Mutter - dreht Dokumentarfilme, einer über den Kindertransport hat es sogar auf die Shortlist für den Oscar geschafft. Aber ihr Blick auf die Gegenwart und auf die Zukunft ist getrübt von der Vergangenheit. "Es kann immer wieder passieren, 'never again', 'niemals wieder' stimmt nicht, auch wenn es so sein sollte. Sowohl die Folgen des Holocaust als auch die Folgen der heutigen Völkermorde, übertrügen sich von Generation auf Generation.

Dieses Denkmal am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin erinnert an die KindertransporteBild: Imago Images/S. Zeitz

"Es tut uns sehr Leid, wir müssen Ihnen mitteilen, dass sie ermordet wurden"

Ralph Mollerick, beige Schiebermütze, dunkelblaue Sweatshirt-Jacke, hat wie die meisten anderen der Reisegruppe auf einer der Stelen des Holocaust-Mahnmals Platz genommen. Wie viele es insgesamt seien, fragt er. "2711", ist die Antwort. Deren abstrakte Form solle zum Nachdenken anregen. Mollerick hört konzentriert zu, manchmal schweift sein Blick kurz zu Boden.

Vor 80 Jahren in England wartet er vergeblich auf seine Eltern. 1942 bekommt er einen Brief vom Internationalen Roten Kreuz, in dem steht: 'Ihre Eltern waren Opfer des Holocaust. Es tut uns sehr Leid, wir müssen Ihnen mitteilen, dass sie ermordet wurden.' "Das war's", sagt Mollerick.

Er wandert schließlich mit seiner Schwester in die USA aus, lernt dort seine Frau Phyllis kennen - die ihn auf der Erinnerungsreise begleitet - gründet mit ihr eine Familie, wird Ingenieur bei der Nasa, heute lebt er in Florida.

Vier Zeitzeugen und Angehörige von "Kindern" auf dem Berliner ReichstagBild: DW/M. Strauß

Mollerick hatte lange mit einem Trauma zu kämpfen, dem Trauma, verlassen worden zu sein, dem Trauma, als Kind an einem unbekannten Ort ganz neu anfangen zu müssen. Heute als 89-Jähriger erzählt er offen über seine Erlebnisse. Er habe zwar die deutsche Sprache verlernt, aber Deutschland sei sein "Mutterland". Zum 13. Mal hat er die lange Reise auf sich genommen, in dem Dorf seiner Kindheit setzt er sich dafür ein, dass der jüdische Friedhof in ordentlichem Zustand ist, in Florida erzählt er Schülern seine Geschichte.

Das Deutschland, aus dem Mollerick vor 80 Jahren fliehen musste, ist nicht mehr das Deutschland, das er heute kennt. Trotzdem: Er macht sich Sorgen, weil Antisemitismus in seinen Augen keinesfalls ein Phänomen der dunklen Vergangenheit sei. "Wir lernen nicht aus unserer Geschichte. Wir lesen darüber und sagen, es ist nicht uns passiert." Menschen mögen unterschiedlicher Meinung sein, das sei okay, aber man müsse trotzdem miteinander klarkommen. Egal aus welchem Land man komme, egal welcher Religion man angehöre.

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