1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Wie kann die Ukraine wieder aufgebaut werden?

25. Oktober 2022

Mit Waffen und viel Geld wird die Ukraine im Kampf gegen Russland unterstützt. Das allein reicht aber nicht. Der Wiederaufbau eines zerstörten Landes muss geplant werden.

Ukraine Krieg | Angriff russische Drohnen in Kiew. Ein Haus ist von einer Drohne getroffen und zerstört worden. Die Aufnahme wurde am 17. Oktober gemacht. Feuerwehrleute stehen im Schutt, im Vordergrund ist Rauch zu sehen.
Drohnenangriffe richten täglich neue Schäden in der Ukraine anBild: Oleksii Chumachenko/ZUMA Wire/IMAGO

Was wird es kosten, die ganze Zerstörung in der Ukraine zu beseitigen und das Land wieder aufzubauen? Auf 750 Milliarden US-Dollar bezifferte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal den Bedarf schon im Juli. Im September sprachen die Weltbank, die EU-Kommission und die Ukraine in einer Kostenschätzung von 349 Milliarden US-Dollar. Welche dieser Zahlen dem Status quo näher kommt, kann niemand so genau sagen, weil der Krieg andauert. 

Tagtäglich richten die russischen Raketen, Drohnen und andere Waffen weiteren Schaden an. Das ukrainische Wirtschaftsministerium spricht unter anderem von 130.000 Häusern, 2400 Schulen und 400 Betrieben, die zerstört sind. Dazu kommen Schienen, Straßen, Brücken und vieles mehr. Seit dem 10. Oktober greifen die Russen gezielt Kraftwerke und die Trinkwasserversorgung an. 

Zwei Tage mit zwei Konferenzen in Berlin

Mehr als ein Drittel der Energieinfrastruktur sei bereits zerstört, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Sie machen das, damit es schwieriger wird, diesen Winter zu überstehen. Damit sich die Ukrainer möglichst lange nicht von diesem Krieg erholen können. Damit sie länger brauchen, um ihr ökonomisches Potenzial zu entwickeln und das in Europa einzubringen", so Selenskyj, der aus Kiew zu einer internationalen Expertenkonferenz zum Wiederaufbau der Ukraine zugeschaltet war.

Russland greift gezielt die Versorgung mit Strom und Wärme anBild: EPA-EFE/TELEGRAM/V ZELENSKIY OFFICIAL HA

Zwei Tage wurde in Berlin über das Thema diskutiert. Zunächst auf Ebene der Wirtschaft, wozu deutsche Unternehmerverbände eingeladen hatten. Anschließend auf politischer Ebene, veranstaltet von der Bundesregierung und der EU-Kommission. Deutschland hat derzeit den G7-Vorsitz inne, das ist der Zusammenschluss von sieben großen demokratischen Industrienationen.

Ein Marshall-Plan für das 21. Jahrhundert

Es sei keine "Geberkonferenz", beeilte sich Kanzler Scholz zu betonen, sondern es gehe bei den Gesprächen auf internationaler Expertenebene darum, "den institutionellen Rahmen zu schaffen, der notwendig ist, um den Wiederaufbau der Ukraine zu lenken und umzusetzen". 

Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Ukraine-Konferenz in BerlinBild: Michele Tantussi/REUTERS

Ein Plan soll entworfen und mit Inhalt gefüllt werden, den Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem historischen Marshallplan gleichsetzen, mit dem die USA das kriegszerstörte Deutschland und andere europäische Länder zwischen 1948 und 1952 über viele Jahre mit hunderten Milliarden US-Dollar wieder aufbauten. 

Aufgabe für Generationen

"Wir wollen diskutieren darüber, wie man die Finanzierung der Wiederherstellung der Wirtschaftskraft, des Wiederaufbaus und der Modernisierung der Ukraine sicherstellen und nachhaltig gestalten kann für die nächsten Jahre und Jahrzehnte", so der Kanzler, der von einer Aufgabe für Generationen spricht, "die kein Land, kein Geber, keine internationale Institution allein stemmen" könne.

"Jeder Euro, jeder Dollar, jedes Pfund, jeder Yen, der ausgegeben wird, ist eine Investition in die Ukraine, aber auch eine Investition in die demokratischen Werte weltweit", sagte die EU-Kommissionspräsidentin in Berlin. Der Wiederaufbau der Ukraine sei ein "Statement, dass die freien und demokratischen Staaten dieser Welt gemeinsam zusammenstehen und dass wir unsere Werte verteidigen." 

Wiederaufbau eines EU-Landes

Beim Wiederaufbau sei wichtig, dass Transparenz und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet würden, Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion und Nachhaltigkeit, betonte von der Leyen und das unterstreicht auch Olaf Scholz. Je "koordinierter und transparenter" die Planung für die Zukunft verlaufe, desto größer werde international die Bereitschaft zu helfen sein, "desto mehr private Unternehmen werden in den Wiederaufbau der Ukraine investieren".

Blick auf die erste Reihe der Konferenzteilnehmer: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Bundeskanzler Olaf Scholz, der ukrainische Ministerpräsident Denys Shmyhal und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (v.l.)Bild: Michele Tantussi/REUTERS

Die Privatwirtschaft will der Kanzler auch damit locken, dass die Ukraine seit kurzem EU-Beitrittskandidat ist. "Wer heute in den Wiederaufbau der Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil unserer Rechtsgemeinschaft und unseres Binnenmarkts sein wird." Das bedeute aber auch, dass der Logistik- und Transportsektor sowie die Verkehrsinfrastruktur so aufgebaut werden müssten, dass die Ukraine vollständig an den EU-Binnenmarkt angebunden wird. 

Zukunft und Gegenwart klaffen weit auseinander

Das Ziel sei ein weiterentwickeltes, nachhaltiges und resilientes Land. "Eine Ukraine, die zu einem wichtigen Erzeuger von grüner Energie geworden sein wird, einem Exporteur von qualitativ hochwertigen Industrie- und Agrarprodukten. Ein digitales Kraftzentrum mit einigen der besten IT-Experten der Welt. Ein Mitglied der EU mit dem entsprechenden rechtlichen Rahmen und der entsprechenden Infrastruktur", wünscht Scholz für die Zukunft.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck diskutierte auf dem Wirtschaftsforum mit der ukrainischen Wirtschaftsministerin Julia Sviridenko, die aus Kiew zugeschaltet warBild: geruabizforum.com

Doch davon ist das Land aktuell weit entfernt. Die ukrainische Wirtschaftsministerin Julia Sviridenko, die per Video aus Kiew am deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum teilnahm, das vor der Expertenkonferenz stattfand, berichtete, die Konjunktur sei in der Ukraine um mehr als 30 Prozent eingebrochen und die Inflation liege bei 26 Prozent. Ein Drittel der Ukrainer sei aktuell arbeitslos. "Manche Prognosen sind noch pessimistischer", so Sviridenko. Ministerpräsident Schmyhal bezifferte den Konjunktureinbruch mit 45 Prozent.

Rund 2000 deutsche Unternehmen sind in der Ukraine

Auf dem Wirtschaftsforum wurde um deutsche Investitionen geworben. Was es heißt, in der Ukraine derzeit einen Betrieb am Laufen zu halten, schilderte Michael Kraus, Manager beim deutschen Baustoffhersteller Fixit. Der Mittelständler hat ein Werk 100 Kilometer südlich von Kiew, ein zweiter Standort ist in der Nähe von Lviv im Bau. "Wir haben immer wieder Fliegeralarm, Verdunkelungen, Energieausfälle, Stromunterbrechungen", berichtete Kraus. "Trotzdem funktionieren wir weiter."

Baustoffe werden in der Ukraine jetzt und in Zukunft in großem Maß gebrauchtBild: Operational Command South/AP/dpa/picture alliance

Der Umsatz liege bei immer noch 75 bis 80 Prozent des Vorjahrs - obwohl große Absatzgebiete weggefallen und Transporte eingeschränkt seien, da das Militär den Frachtraum brauche. Die jüngsten russischen Angriffe auf die Infrastruktur hätten die Unternehmensführung "nochmal sehr nachdenklich gemacht", räumt der Manager ein. "Wenn in unmittelbarer Nähe des Werkes Drohnen und Granaten einschlagen, das ist eine dramatische Eskalation." Trotzdem wolle man weiter in der Ukraine produzieren.

Teufelskreis aus Rezession und Inflation 

"Der Erhalt der Wirtschaft ist genauso wichtig wie der Sieg an der Front", formuliert Wirtschaftsministerin Sviridenko. In Kiew hat man sich dafür entschieden, rund 800 Staatsbetriebe zu verkaufen, um Geld in die gebeutelte Staatskasse zu bekommen. Renten müssen gezahlt werden und Gehälter für das Militär, für Lehrer und Ärzte. Das Haushaltsdefizit liegt bei 38 Milliarden Euro. Laut internationalen Finanzinstitutionen braucht die Regierung allein drei bis fünf Milliarden Euro pro Monat, um die laufenden Kosten abdecken zu können. 

Elf Millionen Menschen sind in der Ukraine als Binnenflüchtlinge unterwegsBild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Geld, das die Ukraine nicht hat. EU-Kommissarin Ursula von der Leyen versicherte auf der Expertenkonferenz zu, die EU werde das Land weiterhin mit 1,5 Milliarden Euro pro Monat unterstützen. "Das sind 18 Milliarden Euro bis Ende 2023." Die EU verlasse sich darauf, dass die USA eine ähnliche Summe zur Verfügung stellten. Der Rest solle über internationale Finanzierungsinstitutionen wie den IWF abgedeckt werden. 

Akute Nothilfe für den Winter

Rechnet man zusammen, was bislang an Waffenlieferungen, Krediten und humanitärer Hilfe in die Ukraine geflossen sind, dann haben die EU, die USA und andere Staaten bereits rund 93 Milliarden Euro aufgebracht. 

In den nächsten Wochen wird es vor allem darum gehen, die Versorgung mit Energie, Wärme und Wasser so weit wie möglich zu reparieren und sicherzustellen. Elf Millionen Binnenflüchtlinge gibt es in der Ukraine, rund acht Millionen Menschen haben Zuflucht in anderen europäischen Ländern gesucht. Es gehe zum Beispiel um Generatoren, Transformatoren und Netzreparaturen, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. "Das hat absoluten Vorrang." 

Anstehen für Trinkwasser in Mykolaiv: Die russische Armee hat die Wasserversorgung zerstörtBild: Emilio Morenatti/AP Photo/picture alliance

Doch auch Habeck blickt über den Krieg hinaus. "Die Ukraine ist ein Premiumhandelspartner für Rohstoffe, Energie und als Zulieferer." Die Bundesregierung werde deutsche Unternehmen im Rahmen der Export- und Investitionsgarantien bei ihrem Engagement in der Ukraine unterstützen. Sobald die Lage wieder etwas stabiler sei, würde er gerne mit einer Wirtschaftsdelegation in die Ukraine fahren, so Habeck. 

Deutsche Wirtschaft hat viele Ideen

Eine Reise, an der viele Unternehmen durchaus ein Interesse hätten. Der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft arbeitet seit dem Sommer in mehreren Arbeitsgruppen an Ideen für den Wiederaufbau der Ukraine. Voraussetzung für ein Engagement ist die rechtliche Entwicklung. Die Wirtschaft hat nicht vergessen, dass Korruption vor dem Krieg ein großes Problem war. 

Ein Signal, das in Kiew gehört wird. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal versprach auf der Expertenkonferenz eine schnelle Fortsetzung tiefgreifender Reformen. Bis Ende des Jahres wolle sein Land das EU-Assoziierungsabkommen umsetzen. Die ukrainische Regierung plane unter anderem, EU-Standards für verschiedene Industriesektoren, eine Zollreform, eine Regierungsreform und die Liberalisierung des Arbeitsrechts. All dies geschehe auch während des Krieges - die Ukraine erfülle ihre Verpflichtungen, sagte Schmyhal.

Dieser Text wurde erstmals am 24. Oktober veröffentlicht und am 25. Oktober aktualisiert.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen