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Wie Litauen russischem Strom den Rücken kehrt

9. Juli 2022

Bis heute teilen die baltischen Staaten ihr Stromnetz mit Russland und Belarus. In Kriegszeiten wächst das Unbehagen darüber. Die Arbeiten zum Umzug ins EU-Netz laufen auf Hochtouren.

Litauen Umspannwerk Alytus
Bild: David Ehl/DW

Die Stahlmasten ragen bereits in den wolkenverhangenen litauischen Himmel, die Kabel hängen, nur der Strom fließt noch nicht: Auf halbem Weg zwischen den Leitungen und dem Erdboden stehen zwei große Aluminiumarme. Nur eine Vierteldrehung, dann würden sich die beiden Arme berühren; der Stromkreis wäre geschlossen - und Litauens Elektrizitätsnetz wäre mit jenem des EU-Nachbarn Polen verbunden.

Das Umspannwerk nahe der süd-litauischen Stadt Alytus ist ein wichtiger Knotenpunkt für das kleine baltische Land und seine Nachbarn: Ein Leitungsstrang führt ins Land hinein, der zweite, bereits erwähnte, reicht bis zur Verbindungsstation im polnischen Elk. Doch noch führt diese Trasse keinen Strom - dafür die dritte, die über die Grenze ins nahe Belarus führt.

Noch aus Sowjetzeiten stammt der sogenannte BRELL-Ring, ein Stromverbund aus Belarus, dem westlichen Russland, Estland, Lettland und Litauen. Ursprünglich war geplant, diesen Zustand bis 2025 zu beenden. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sollen die baltischen Staaten nun schon ein Jahr früher aus dem Ring herausgelöst und in das EU-Stromnetz integriert werden; bis dahin bleibt Strom im Konflikt mit Russland aus Sicht von litauischen Energieexperten die einzige Schwachstelle.

Eine Vierteldrehung, dann berühren sich die zwei Aluminium-Arme - und leiten Strom von Polen nach Litauen durchBild: David Ehl/DW

Litauen ist abhängig von Stromimporten

In den ersten Kriegstagen wurde die Ukraine notdürftig ins EU-Netz integriert. Im Fall der kleinen baltischen Länder ist der Umzug technisch komplizierter und wird bereits seit 2009 vorbereitet.

Nach der Abschaltung des Atomkraftwerks Ignalina im selben Jahr wurde Litauen stark von Stromimporten abhängig - 2019 stammten immer noch 70 Prozent des verbrauchten Stroms aus dem Ausland. Die Hauptlieferanten sind Schweden und Lettland; die Importe aus Belarus wurden 2020 gestoppt, die aus Russland in diesem Mai. Seitdem ist der BRELL-Ring für die baltischen Netzbetreiber vor allem wichtig, um Spannungsspitzen auszugleichen - und weil dort zentral der Takt für die 50-Hertz-Frequenz der Wechselspannung vorgegeben wird.

"Das System ist nicht sicher, weil wir von Dienstleistungen abhängig sind, die Russland für uns erbringt", sagte Energieexperte Martynas Nagevičius vom litauischen Verband der Erneuerbaren Energien der DW im Mai: "Für uns hat sich die Lage etwas verbessert, seitdem wir Verbindungen mit Schweden und Finnland über Estland, sowie zwei Verbindungen mit Polen haben. Wir können jetzt Energie mit Europa austauschen. Aber die Frequenz hängt immer noch an Russland."

Das Kerrnkraftwerk Ignalina gleicht in seiner Bauart dem Unglücksreaktor Tschernobyl - die EU bestand bei den Verhandlungen zu Litauens Beitritt darauf, den Meiler abzuschaltenBild: Alexander Welscher/dpa/picture alliance

Das heißt, auch wenn heute bereits Strom aus Polen zugekauft wird, muss dieser in Alytus zwei Mal konvertiert werden, sodass der Weitertransport durch Litauen synchron mit der Taktung im restlichen BRELL-Ring läuft.

Russische Drohungen im Kaliningrad-Streit

Litauen sei "vorbereitet auf unfreundliche Aktionen Russlands wie eine Abtrennung aus dem BRELL-Ring", erklärte Präsident Gitanas Nauseda am 22. Juni. Er bezog sich damit auf von Russland angedrohte Vergeltungsmaßnahmen im Streit um den Warentransit nach Kaliningrad. Der Sekretär des Russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, hatte von Maßnahmen gesprochen, die "ernste negative Auswirkungen auf die litauische Bevölkerung haben werden".

Litauen hatte Mitte Juni den Transit bestimmter von EU-Sanktionen betroffener Güter wie Stahl zwischen dem russischen Kerngebiet und der Exklave Kaliningrad ausgesetzt. Die Regierung in Vilnius erklärte, man setze lediglich die wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine EU-weit verhängten Sanktionen um. Inzwischen deutet alles auf eine Schlichtung hin, wonach Brüssel Litauen anweisen will, den Transit wieder weitestgehend ungehindert passieren zu lassen.

"Wenn Russland uns den Stecker zieht, synchronisieren wir mit Europa"

Damit gilt ein russischer Eingriff in die Stromversorgung Litauens als nahezu abgewendet - zumindest fürs Erste. Doch die Gefahr bleibt bestehen, bis der Umzug ins europäische Netz abgeschlossen ist. Schon heute könne man jedoch jederzeit reagieren und größere Schäden abwenden, sagte der Geschäftsführer des staatlichen Netzbetreibers Litgrid, Rokas Masiulis, im Mai im Gespräch mit der DW: "Wenn Russland uns jetzt den Stecker zieht, synchronisieren wir einfach mit Europa. Aber der Betrieb wird etwas teurer. Jetzt geht es letztendlich also nur noch darum, dass es wirtschaftlich und damit bequemer für uns wird."

Mithilfe der Leitung nach Polen (links im Bild) könnte in Alytus jederzeit vom russischen aufs europäische Netz gewechselt werdenBild: David Ehl/DW

Die Überlandleitung zwischen Polen und dem Umspannwerk Alytus sei dabei die wichtigste "Arterie". Noch in Bau ist ein Gleichstromkabel, das auf dem Grund der Ostsee ebenfalls nach Polen verlegt werden und den grenzüberschreitenden Handel mit Strom erleichtern soll. Als nächstes installiert Litauen drei sogenannte Phasenschieber - das sind Geräte, die in Wechselstrom-Kreisläufen ähnlich wie ein Schwungrad mitlaufen und bei kurzzeitigen Ausfällen die Frequenz stabil halten, also das Netz weiter stabilisieren. Auch in Estland und Lettland werden je drei Phasenschieber installiert.

Zeitlich begrenzte Tests, einen Teil des litauischen Stromnetzes vom BRELL-Ring zu entkoppeln, waren erfolgreich - doch Energie-Experte Nagevičius gibt zu bedenken, dass damit noch kein Beweis erbracht ist, dass der "isolierte Modus" auch zeitlich unbegrenzt im ganzen Land funktionieren würde. In Alytus und an drei anderen Standorten im Land sollen Batterieblöcke mit einer Speicherkapazität von je 50 Megawatt-Stunden installiert werden, um die Stabilität weiter zu erhöhen.

Nächster Umbau: Erneuerbare Energien

Die Stromspeicher sind auch deshalb wichtig, weil schon heute 75 Prozent des in Litauen produzierten Stroms aus Wind- und Sonnenkraft stammen. "Das ist die einzige Energiequelle, die wir hier in Litauen haben", sagt Nagevičius.

Keine Fata Morgana: Erneuerbare Energien machen schon heute 75 Prozent der litauischen Stromproduktion ausBild: David Ehl/DW

Gerade, wenn man Energie aus einem sicherheitspolitischen Blickwinkel betrachtet, ist das ein Argument - erst recht aber, wenn es um Klimaschutz und die EU-weiten Ziele dabei geht. Dementsprechend werden die erneuerbare Quellen massiv ausgebaut, um bei steigendem Verbrauch gleichzeitig weniger Importe zu benötigen. Bis 2030 soll die Importmenge mittels neuer Wind- und Solarkraftwerke halbiert werden. Bis dahin soll zudem jeder dritte der insgesamt 1,6 Millionen litauischen Stromverbraucher zu einem sogenannten "Prosumer" werden - also nicht nur Strom konsumieren, sondern mit einer privaten Solaranlage auch produzieren und Überschüsse ins Netz einspeisen. In ein Netz, auf das Russland dann keinen Einfluss mehr hat.

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