Wie Sportler mit Long COVID leben
24. März 2023Das Training ist intensiv, die Konzentration bei Marie-Sophie Zeidler auf die Olympischen Spiele in Paris 2024 ausgerichtet. Allerdings hat die deutsche Top-Ruderin in diesen Tagen und Wochen wieder mit einem Gegner zu kämpfen, der nicht so richtig einzuschätzen ist. Die 24 Jahre alte Spitzenathletin, jüngere Schwester von Einer-Doppelweltmeister Oliver Zeidler, hat sich vor gut vier Wochen zum zweiten Mal nach Oktober 2020 eine Corona-Infektion zugezogen. Damals hatte sich ihr Lungenvolumen auf nur noch 60 Prozent Leistungsfähigkeit reduziert, heute muss sie einen Verlust von gut 25 Prozent verkraften. "Es ist extrem erschreckend zu sehen, wie schnell der Körper abbauen kann, obwohl man ja eigentlich fit ist", sagt Zeidler der DW.
Sechs Monate kämpfte sie nach ihrer ersten Infektion mit Long-COVID-Symptomen wie schneller körperlicher Erschöpfung, Müdigkeit und anderen unerfreulichen Begleitumständen, ehe sie wieder ihre alte Leistungsfähigkeit erreichte. "Jetzt ist die Medizin ja vorangeschritten und es gibt Medikamente", sagt Zeidler, die als Polizistin beschäftigt ist. Die Anti-COVID-Medizin habe ihr geholfen, nun gehe alles schneller. Daher hofft die Leistungs-Ruderin, deutlich zügiger wieder dauerhaft zur alten Form finden zu können. "Aber ob die Zeit ausreicht und die Olympischen Spiele wirklich noch realistisch sind, wird man erst noch sehen", so Zeidler, die sich in Wettkämpfen erst noch für dieses Großevent qualifizieren muss.
Behandlung ist anspruchsvoll
"Auch wenn wir als Wissenschaft diese Erkrankung immer besser verstehen - es gibt nicht eine alleinige Methode, wie man Long COVID bekämpfen könnte. Wir reden hier von 200 verschiedenen Symptomen, die man unterscheiden muss", sagt Wilhelm Bloch, Leiter der Abteilung für molekulare und zelluläre Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln, der DW. Er und seine Kollegen nähern sich allerdings immer besseren Lösungsansätzen und Behandlungsmethoden. Bloch lässt allerdings keine Zweifel aufkommen, wie ernst Long COVID ist. Rund sechs Prozent der betroffenen Aktiven könnten ihren Sport gar nicht mehr ausüben, so der Sportwissenschaftler: "Es gibt Einzelfälle im Post-COVID-Bereich, die sind halt dramatisch."
Oftmals werde bei Long COVID das Fatigue-Syndrom beobachtet - anhaltende Müdigkeit, tiefe Kraftlosigkeit und fehlender Antrieb, so dass der normale Alltag kaum mehr zu bewältigen sei. So hatte es auch Marie-Sophie Zeidler erlebt. "Man muss sich immer jeweils an den individuellen Beschwerden der Patientin oder des Patienten orientieren, das ist ganz wichtig", sagt Bloch. Das mache die Behandlung oftmals so anspruchsvoll und manchmal auch kompliziert.
Vom Leichten zum Schweren
Beim TSV Bayer 04 Leverkusen arbeitet Reha-Trainer Hans-Peter Gierden in eigens entwickelten Kursen daran, dass Long-COVID-Patienten nach und nach wieder auf die Füße kommen. "Viele Leute können sich nicht konzentrieren, einige haben Gleichgewichtsstörungen. Und es ist immer das Fatigue-Syndrom dabei", sagt Gierden. "Die Kunst ist es, den Teilnehmenden nicht zu überfordern und die Übungen richtig zu dosieren."
Jede Kurs-Stunde sei im Übrigen anders zusammengestellt. "Es kann sein, dass ich Balance- mit Kräftigungsübungen kombiniere. Oder es gibt auch mal eine Federballstunde. Alle Übungen werden immer vom Leichten zum Schweren ausgeführt. Und wem es zu viel wird, kann wieder auf die vorherige Übung zurückkehren", so Gierden. Nach jeder Übungseinheit überprüft der 57-Jährige mithilfe der sogenannten "Borg-Skala" (benannt nach dem schwedischen Physiologen Gunnar Borg), wie das subjektive Belastungsempfinden der einzelnen Kursteilnehmer war.
"Seitdem ich daran teilnehme, geht es mir sehr viel besser", sagt Hermann-Josef Eigen der DW. Im April 2021 hatte den ehemals sehr aktiven Breitensportler eine COVID-Infektion sehr schwer erwischt, er stand kurz davor, auf die Intensivstation eingeliefert zu werden. "Ich konnte nicht mehr richtig atmen, bei mir ging gar nichts mehr", sagt der 61-Jährige. Es habe knapp vier Monate gedauert, bis er überhaupt mal wieder ein paar Schritte spazieren gehen konnte. Als es gesundheitlich wieder einigermaßen voranging, schloss er sich dem Reha-Kurs von Hans-Peter Gierden an. "Durch die Art des Trainings ist die Atemnot in Vergessenheit geraten", sagt Eigen. Mittlerweile praktiziere er die Übungen auch zu Hause, außerhalb der Kurse, jeden Tag mindestens eine Stunde lang. "Mir geht es jetzt sogar besser als vor meiner Erkrankung."
Zeidler: "Seltsame Krankheit"
"In den Monaten nach der Erkrankung klagen die Sportler meistens darüber, dass sie nicht auf die volle Leistungsfähigkeit kommen. Gerade in den ersten drei Monaten ist bei den Sportlern am erhöhten Ruhepuls gut zu erkennen, wie betroffen sie sind", sagt Sportwissenschaftler Bloch. "Aber es dauert oft einige Monate mehr, bis alles wieder auf dem alten Leistungsstand ist."
Nach behutsamen Trainingssteigerungen ist Ruderin Marie-Sophie Zeidler derzeit nach den meisten körperlichen Belastungen beschwerdefrei. Bei einem jüngst beendeten Trainingslager konnte sie wieder an ihre körperlichen Grenzen gehen. Nur nach dem letzten Trainingstag fiel sie ganz unerwartet in ein körperliches Loch. "Da ging auf einmal wieder gar nichts mehr bei mir", so Zeidler, die vor ihrem ersten Wettkampf nach der neuerlichen Corona-Infektion steht.
"Das ist das Seltsame an dieser Krankheit: Man kann die Reaktion des Körpers einfach nicht vorhersehen. An einem guten Tag ist alles möglich, an einem schlechten gar nichts." Sie muss sich einfach überraschen lassen.