Deutschland muss nachdenken
22. November 2019Am 8. November nahm der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber in Budapest einen hohen Orden von Ungarns Staatspräsident János Áder entgegen. Danach traf er sich zum privaten Meinungsaustausch mit Ministerpräsident Viktor Orbán. Ein Stündchen war geplant. Es wurden mehr als drei.
Worüber redeten die beiden? "Vor allem über die Europapolitik und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron", sagte Stoiber danach im Gespräch mit mir. Macrons "drastische Äußerungen: Europa müsse sich als Weltmacht sehen oder es werde verschwinden" seien "in dieser zugespitzten Form noch von niemandem gesagt" worden. Stoiber ließ keinen Zweifel daran, dass er Macron beipflichte, obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel ihm widersprochen hatte. Und er fügte hinzu, dass auch Orbán das so sehe - die Nato sei nicht mehr was sie einmal war. An einer Erfüllung der Beistandspflicht etwa, sollte beispielsweise Estland von Russland angegriffen werden, müsse stark gezweifelt werden. Schlussfolgerung: Europa müsse in der Verteidigungspolitik zusammenwachsen und sich eine eigene, schlagkräftige Armee geben. Orbán sei dabei gerne Partner "im Rahmen der Möglichkeiten seines Landes".
Ungarn als Pfadfinder in Zeiten radikalen Wandels
Orbán und Macron sprachen darüber auch persönlich und ausführlich, als der französische Präsident den ungarischen Regierungschef am 11. Oktober in Paris empfing. Danach berichtete Macron unter anderem, er habe mit Orbán über die Zukunft der Nato und der EU gesprochen, und viel gemeinsamen Boden dabei entdeckt.
Schon davor, im September, hatte Macron Orbán auf der Botschafterkonferenz seines Landes "inspirierend" genannt - ein Kompliment, mit dem Orbán umgekehrt auch Macron wiederholt geschmeichelt hat. Original-Ton Macron: Orbáns politischer Diskurs „trägt kulturelle und zivilisatorische Lebenskraft in sich", Ungarn sei unter Orbán zu einem Pfadfinder in Zeiten radikalen Wandels geworden, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern.
Anders sieht man Macron in Polen. Dessen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte Macrons Nato-Analyse (die Allianz sei "hirntot") "gefährlich". Er griff Macron scharf an: Frankreich sei knauserig bei der Verteidigung; sei Frankreich überhaupt bereit, seine Pflichten zu erfüllen? Er hoffe dass man sich auf das Land in der Nato noch verlassen könne.
Der giftige Ton kommt nicht von ungefähr. Macrons brisanteste Kritik, die USA würden einen Angriff Russlands auf eines der früheren Ostblockländer wahrscheinlich nicht als einen Fall von "Beistandspflicht" werten, trifft Polens Verteidigungspolitik im Kern. Warschau sieht Russland als echte, konkrete Gefahr für Polens Sicherheit, und denkt über die EU genau so wie Macron über die Nato denkt: Im Ernstfall wäre auf sie kein Verlass. Deswegen hat Polen in den letzten Jahren viel politische Energie und auch viel Geld investiert, die Amerikaner zu umgarnen. Die Regierung konnte erreichen, dass US-Truppen in Polen stationiert wurden, und baut auf enge sicherheitspolitische Beziehungen zu den USA. Macron findet das naiv. Und vielleicht ist es das auch.
Macron und Orbán als intellektuelle Impulsgeber in Europa
Es ist schon bemerkenswert, was da passiert: Macron und Orbán sind die beiden intellektuellen Impulsgeber in der Debatte über die Zukunft Europas geworden. Die Schablonen der Vergangenheit - für oder gegen Europa, mehr oder weniger europäische Integration, mehr EU oder mehr Nationalstaat - passen nicht mehr zu den komplexen und durchaus widersprüchlichen Gedanken, die die beiden formulieren.
Macron beispielsweise hat eine Erweiterung der EU um die Westbalkan-Staaten torpediert - also "weniger Europa". Es ist eine Entscheidung, die russischem, chinesischem und türkischem Einfluss in der Region die Tore öffnet - also ein "schwächeres Europa" schafft. Die als EU-skeptisch verschrieenen ostmitteleuropäischen Visegrád-Länder (V4) - also Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei - sind hingegen die leidenschaftlichsten Verfechter einer neuen Osterweiterung - also "mehr EU". Aus schierem Eigeninteresse. Es würde nämlich das politische Gewicht des "Ostens" in der EU deutlich vergrößern.
Macron will einen europäischen Finanzminister, direkte EU-Steuern, eine gemeinsame Wirtschaftspolitik - "mehr EU". Orbán und die V4 nichts von all dem - "weniger EU". Alle wollen mehr EU-Geld, etwa aus einer neuen Finanztransaktionssteuer - heißt: "mehr EU". Macron und die V4 haben das Spitzenkandidaten-Prinzip bei den EU-Wahlen versenkt - ergo: "weniger EU".
Der Streit um mehr oder weniger EU
Macron und die V4 wollen eine echte europäische Armee - "mehr EU". Frankreich deswegen, weil es traditionell selbst eine Macht sein will und in einer europäischen Streitmacht eine Führungsrolle beanspruchen könnte. Polen hat teilweise Interesse, falls das ein Element mehr wäre, mit dem man Russland entgegentreten könnte - wenn nur die Nato dabei nicht zerfällt. Ungarn, Tschechien und die Slowakei mögen die Idee deswegen, weil sie zu klein sind um sich eine schlagkräftige Armee zu leisten.
Kurzum, wenn in Deutschland oft pauschal gefragt wird ob man für oder wider EU oder Nato ist, stellen Macron und Orbán hartnäcking die Sinnfrage in Teilbereichen. Mehr EU dort, wo es Sinn macht. Nicht um der EU willen, sondern nur dort wo und falls es den eigenen Interessen dient.
Die sind unterschiedlich gelagert, deswegen sind die Positionen teilweise konträr. Aber es geht immer um das eigene, nationale Interesse.
Deutschland steht unentschlossen und zögernd in der Mitte. Es erkennt offenbar eine Stoßrichtung Macrons, dieselbe wie die ewige Stoßrichtung der französischen Europapolitik seit Charles De Gaulle: Deutschland politisch fesseln, seine Wirtschaftspotenz anzapfen, und möglichst verhindern, dass die Deutschen ihrer Macht gewahr werden und wieder eigene Wege gehen wollen in Europa.
Deutschland - so glaubt man in Ostmitteleuropa - ist tatsächlich mächtig. Und verwirrt darüber. Wohin mit dem eigenen Gewicht? Nach links, Frankreich umarmen und europäische "Solidarität" üben? Nach rechts, und mit dem Beifall der Osteuropäer klassische nationale Machtpolitik betreiben?
Macron und Orbán machen das, was man in Deutschland am meisten verabscheut: Neue, disruptive Ideen lancieren in einer Welt, die doch so bequem und schön zu funktionieren schien. Deutschland, so sieht man es in Frankreich und in Ostmitteleuropa, ist verliebt in den Status Quo, aber der ist nicht zu retten. Das zwingt zum Nachdenken. Das kann zu Kopfschmerzen führen.
Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien.