Wie Malcolm X gegen den "amerikanischen Alptraum" kämpfte
18. Mai 2025
"Was glauben Sie, würden Sie nach 400 Jahren Sklaverei, Jim Crow und Lynchjustiz tun? Glauben Sie, Sie würden gewaltfrei reagieren?" Das war eine der Kernfragen, die Malcolm X der US-amerikanischen Gesellschaft stellte. Denn obwohl die Sklaverei in den USA 1865 abgeschafft wurde, zementierten die sogenannten Jim-Crow-Gesetze bis 1964 weiterhin die alltägliche Diskriminierung der Schwarzen. Sie durften nicht wählen und im Bus oder Restaurant nicht neben Weißen sitzen. Sie lebten in schwarzen Ghettos und bekamen schlechte Jobs.
"Malcolm X hat genau die Punkte thematisiert, die den unterdrückten Afroamerikanern auf der Seele brannten", sagt die Augsburger Geschichtsprofessorin Britta Waldschmidt-Nelson, Autorin der Biographie "MALCOLM X. Der schwarze Revolutionär", der DW.
Seine Botschaft an die Afroamerikaner war eindeutig: Seid selbstbewusst! Kämpft für eure Rechte "by any means necessary" - mit allen notwendigen Mitteln, sprich: zur Not auch mit Gewalt. Der 1974 mit dem Pulitzerpreis geehrte Journalist Leslie Payne (1941-2018) schrieb, er sei 1963 durch eine Rede Malcolms wie durch einen "blitzenden Schwerthieb" von dem tief in seiner Psyche verankerten "konditionierten Minderwertigkeitsgefühl als Schwarzer" befreit worden.
Genau das war das erklärte Ziel des laut Waldschmidt-Nelson "zornigsten Mann Amerikas" - und er hatte allen Grund dazu, zornig zu sein. Denn Malcolm X, der am 19. Mai 1925 als Malcolm Little in Omaha in Nebraska das Licht der Welt erblickte und in der Nähe von Detroit aufwuchs, wusste, was es in den USA bedeutete, schwarz zu sein.
"Für einen Schwarzen kein realistisches Ziel"
Seine Kindheit war von Armut und Gewalt geprägt. Er war sechs Jahre alt, als sein Vater tot aufgefunden wurde. Malcolms Mutter war überzeugt, dass Rassisten ihn ermordet hatten. Mit sieben Kindern und wenig Geld war sie komplett überfordert, wurde psychisch krank. Malcolm kam in die Obhut diverser Pflegefamilien und Institutionen; er selbst sprach später in seiner Autobiographie vom "Terror der sehr weißen Sozialarbeiter".
Trotz der schweren Startbedingungen war er ein guter Schüler, der einzige Schwarze in seiner Klasse. Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn maßgeblich: Sein Lieblingslehrer habe gefragt, was er denn mal werden wolle, erzählt Waldschmidt-Nelson. Malcolm antwortete, er würde gern Jura studieren. Für einen Schwarzen (wobei er das N-Wort gebrauchte) sei das kein realistisches Ziel, so der Lehrer. Malcolm solle doch lieber was mit den Händen machen. "Das war die Lebenswirklichkeit der Afroamerikaner", so die Historikerin.
Der junge Malcolm war vollkommen desillusioniert. Seine Noten fielen dramatisch ab, schließlich zog er mit 15 zu seiner Schwester Ella nach Boston, später nach New York. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bevor er zum Kleinkriminellen wurde. Anfang 20 kam er wegen diverser Einbrüche ins Gefängnis.
Bekenntnis zur Nation of Islam
"Hier ist ein schwarzer Mann, in einem Käfig hinter Gittern … weggesperrt durch den weißen Mann …", schrieb er später in seiner Autobiographie. "Lass diesen eingesperrten schwarzen Mann einmal anfangen zu realisieren, so wie ich es tat, dass es von der Ankunft des ersten Sklavenschiffes an Millionen von Schwarzen in Amerika so erging wie Schafen in einer Wolfshöhle. Das ist der Grund, warum schwarze Häftlinge so schnell Muslime werden, sobald die Lehre Elijah Muhammads in ihre Käfige eindringt."
Der schwarze Bürgerrechtler Elijah Muhammad, das war der Anführer der Nation of Islam, einer religiös-politischen Organisation von Afroamerikanern außerhalb der islamischen Orthodoxie. "Sie behaupten, dass alle Schwarzen von Natur aus Kinder Gottes und gut sind und alle Weißen von Natur aus böse und Kinder des Teufels", erklärt Waldschmidt-Nelson. "Was das für Malcolm und auch viele andere Gefängnisinsassen sehr attraktiv gemacht hat, ist natürlich, dass da jemand kommt und sagt: 'Ihr seid selber gar nicht schuld an eurem Elend, sondern das sind die blauäugigen Teufel, die dafür gesorgt haben, dass ihr auf die schiefe Bahn geraten seid'." Deshalb seien Gefängnisse auch immer der favorisierte Rekrutierungsort für die Nation of Islam gewesen.
Für den österreichischen Politikwissenschaftler Farid Hafez, der derzeit an der William & Mary Universität in Williamsburg unterrichtet, ist die Nation das Produkt einer spezifisch afroamerikanischen Geschichte. "Sie fußt, was ihre politische Philosophie anbelangt, ganz stark auf dem "Afrozentrismus" - sozusagen Afroamerikaner zurück nach Afrika zu bringen", sagt er der DW. "In den 1950er-Jahren wurde die Gruppe von den Sicherheitsbehörden des Staates beschattet. Zum einen als schwarze, separatistische Bewegung, zum anderen waren hier 'böse Muslime' aktiv, denen man nicht trauen konnte." Islamophobie sei damals allerdings kein größeres Thema gewesen: "Feindbild der Regierung waren die Kommunisten, gegen die man "gute Muslime" durchaus mobilisieren konnte."
Kampf gegen die "weißen Teufel"
Auch Malcolm Little schloss sich der Nation an. Fortan nannte er sich Malcolm X, denn die Nachnamen eines jeden schwarzen Afroamerikaners wurden einst von Sklavenhaltern vergeben. Deshalb lehnten die Mitglieder der Nation of Islam sie ab und nannten sich schlicht "X".
Seine siebenjährige Haftzeit nutzte er, um sich autodidaktisch weiterzubilden. 14 Jahre lang gehörte er der Nation of Islam an. Anführer Elijah Muhammed wusste den intellektuellen Scharfsinn und die Redekünste des jungen Mannes zu schätzen und machte ihn zum Sprecher der Organisation.
In seinen Reden prangerte Malcolm X immer wieder die "weißen Teufel" an. Obwohl er in den Nordstaaten der USA lebte - für Schwarze aus den noch viel restriktiveren Südstaaten das "Gelobte Land" - setzte er auch hier keine Hoffnung mehr in weiße "Liberale". Hatte er doch selbst erlebt, dass Schwarze überall in den USA als Bürger zweiter Klasse galten.
Für die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings hatte Malcolm X lange nur Verachtung übrig. Kings berühmte Rede beim Marsch auf Washington 1963 von einem über alle Rassenschranken hinweg geeinten, freien Amerika kritisierte er als wirklichkeitsfremd: "Ich bin kein Amerikaner. Ich bin einer der 22 Millionen Schwarzen, die das Opfer von Amerikanismus sind … Ich sehe Amerika durch die Augen eines Opfers. Ich sehe keinen amerikanischen Traum; ich sehe einen amerikanischen Alptraum!"
Pilgerfahrt nach Mekka - und ein Sinneswandel
Im März 1964 brach Malcolm X mit der Nation of Islam. Im gleichen Jahr machte er eine Pilgerreise nach Mekka - und sein Bild der "weißen Teufel" kam ins Wanken: "Er war tief beeindruckt von der Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit, mit der ihm auch weiße Muslime in Saudi-Arabien begegneten", schreibt Britta Waldschmidt-Nelson in ihrer Biografie. "Und dann hat er sich im letzten Jahr seines Lebens abgewandt von dieser rassistischen Doktrin", sagt sie der DW.
Er setzte sich eine neue Aufgabe :"Malcolm X wollte eine Allianz aller braunen und schwarzen unterdrückten Volker gegen die kolonialistische Unterdrückung der Weißen schaffen". Auf einer Afrikareise lobten die Regierungen zwar sein Ansinnen, aber mit Unterstützung konnte er nicht rechnen: "Sie hingen natürlich alle am Tropf der amerikanischen Entwicklungshilfe, und die meisten der afrikanischen Regierung hätten deshalb damals nicht öffentlich gegen die USA operiert."
Stattdessen geriet Malcolm X in den Fokus der CIA. Und auch die Nation of Islam war ihm auf den Fersen. "Er wusste, dass er ermordet wird und es war auch eine bewusste Entscheidung von ihm, sich dem zu stellen und nicht wegzugehen", sagt Waldschmidt-Nelson. "Er hat sich wohl gesagt: Ich kann jetzt nicht aufgeben. Malcolm hat nach seiner Erfahrung in Mekka einen ganz neuen Weg eingeschlagen, war offen auch für eine Zusammenarbeit mit der Bürgerrechtsbewegung Kings und gegebenenfalls auch für eine Zusammenarbeit mit Weißen."
Doch dazu kam es nicht mehr. Am 21. Februar 1965 wurde er während eines Vortrags erschossen - von Mitgliedern der Nation of Islam. Er wurde nur 39 Jahre alt. Die meisten Afroamerikaner waren zutiefst betroffen und schockiert. Für die meisten weißen Amerikaner hingegen war Malcolm X ein fanatischer "Hassredner": Er hatte ihrer Meinung nach bekommen, was er verdiente.
Vergessen wurde er nicht: Besonders in den 1980er-Jahren wurde er in der Hip-Hop-Kultur sehr wichtig. "Segmente der Reden von Malcolm X wurden gesampelt. So schuf er eine Art von Wiederaufleben der schwarzen Identität als politische Identität", sagt Michael E. Sawyer, Professor für afroamerikanische Literatur und Kultur an der Universität Pittsburgh. Die Lieder sind politische Kampfansagen an weißen Rassismus, Polizeibrutalität und die Verelendung der schwarzen Unterschicht. Und dann habe Spike Lee 1992 die Autobiographie Malcolms mit Denzel Washington in der Hauptrolle auf die Leinwand gebracht habe: eine Identifikationsfigur.
"Bei der jüngeren Generation - auch bei vielen Mitgliedern der Black Lives Matter-Bewegung - gilt er, nicht King, als die zentrale Symbolfigur der eigenen kulturellen Identität", so Waldschmidt-Nelson.
Und heute? 60 Jahre nach seinem Tod sei Malcolm Xs Stimme wieder gefragt. "Unter der gegenwärtigen Regierung in den USA wird ja Geschichtsfälschung betrieben. Sie versucht, die Geschichte in Museen und Schulbüchern so umzuschreiben, als hätten die Gründerväter alle keine Sklaven gehabt oder als hätte es nie Rassismus gegeben. Viele der weißen Backlash-Leute sind halt der Ansicht, Amerika ist glorreich und wundervoll und darf nicht kritisiert werden."
Malcolm X hätte das bestimmt nicht so stehen lassen.
Literaturtipp: Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. C.H. Beck Verlag, 2025