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Bauprojekt entwurzelt Menschen

Laura Döing
23. Februar 2020

Mit "El Gran Canal" will Nicaraguas autokratischer Präsident Daniel Ortega einen Kanal für Riesenfrachter graben - durch die Heimat indigener Gemeinschaften. Der Film "Perro" zeigt, was das bedeutet.

Szene aus dem Film "Perro" von Lin Sternal
Bild: Julia Hönemann/Zum Goldenen Lamm GmbH

Doku: Perro und der Nicaraguakanal

02:47

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Vögel und Affen kreischen, Insekten schwirren brummend vorbei, Grillen stimmen zirpend mit ein und Frösche quaken, als Perro mit seinen drei Freunden durch den sumpfigen Dschungel watet. Seine blauen Plastik-Schlappen trägt er in der linken Hand, die Beine stecken fast bis zur hochgekrempelten, orangefarbenen Hose im Schlamm.

Beiläufig streift er mit der freien anderen Hand die grünen, dicken Blätter, die den Trampelpfad säumen. Perro schaut sich um und ruft nach dem Hund, der den Jungs auf ihrem Weg durch den Urwald nachtrottet.

Joshua McCree alias PerroBild: Julia Hönemann/Zum Goldenen Lamm GmbH

Die Kamera folgt Perro dabei auf Schritt und Tritt, beobachtet ihn genau. Neun Jahre alt war Perro, der den Namen von seinen Freunden bekam und eigentlich Joshua McCree heißt, als die Berliner Filmemacherin Lin Sternal ihn das erste Mal traf. Damals ahnte er vermutlich nicht, dass ein Filmteam das, was ihm passieren würde, vier Jahre lang begleiten wird.

Perro lebt in Bangkukuk an der Ostküste von Nicaragua, südlich der Stadt Bluefields: Eine Dorfgemeinschaft im Naturschutzgebiet, die zu einer ethnischen Gruppe der nicaraguanischen Ureinwohner, der Rama, gehört. "Wir mussten wirklich ein Boot mieten, um überhaupt dorthin zu kommen. Es ist dort unglaublich friedlich, die Natur ist wunderschön. Und wie die Menschen miteinander leben, hat mich sehr berührt", erzählt Regisseurin Lin Sternal im DW-Interview.  

Lin SternalBild: DW/L. Döing

Wie der Kanalbau alles verändert

Perros Alltag besteht daraus, mit seinen Freunden Krebse zu fangen und die Zehen im Sandstrand zu vergraben; die Früchte der Palmen zu erklettern, die Schule zu besuchen und Hausschwein Piggy beim Dickerwerden zuzusehen. All das unter den strengen Blicken seiner Großmutter, in deren mit Palmblättern bedeckter Hütte er lebt. Doch dann wird sein Lehrer abgezogen - und Perros Leben nimmt einen anderen Lauf.

Denn mitten durch Perros Lebensraum will die autokratische Regierung Nicaraguas einen Kanal bauen, der dem Panamakanal das Wasser abgraben soll: Noch größer, noch tiefer soll er werden und den Pazifik mit dem Karibischen Meer verbinden. Zumindest war das der Plan, als der chinesische Investor 2014 zum ersten Spatenstich anhob.

120.000 Menschen würden ihr Zuhause verlieren, beklagen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Außerdem droht der Nicaraguasee, die größte Süßwasserquelle Zentralamerikas, zu versalzen, wenn durch ihn Frachter fahren und Meerwasser einspülen.

Ebenfalls durch "El Gran Canal" gefährdet: der NicaraguaseeBild: Getty Images/AFP/I. Ocon

"Beschütze unser Zuhause, Herr Jesus"

Entlang der geplanten Kanalroute hat die Regierung die Investitionen in das Bildungssystem gestoppt. Perro und seine Großmutter erfahren von dem Bauvorhaben und seinen drastischen Folgen zunächst nur über das kleine, batteriebetriebene Radio. Doch was kann eine indigene Gemeinschaft am Rande der Zivilisation schon dagegen ausrichten? Beistand erbittet sich Perros Großmutter in eindringlichen Gebeten: "Herr Jesus, wir brauchen unser Zuhause, unseren Minister, unseren Lehrer. Bring sie zurück, Herr Jesus. Lenke den Kanal weg von uns. Wir wollen hier keinen Kanal, Herr Jesus. Beschütze unser Zuhause, Herr Jesus. Wir wollen nicht unser Zuhause verlieren."

Eines Tages hievt Perro das friedlich am Ufer ruhende Hausschwein Piggy in ein Boot. Piggy kommt zum Schlachter. Nur dadurch kann Perro die Schuluniform finanzieren - und Perro nach Bluefields zu seiner Tante ziehen, um wieder zur Schule zu gehen.

Das Bauprojekt zwingt Perro, die Natur hinter sich zu lassen und in die Stadt zu ziehen Bild: Julia Hönemann/Zum Goldenen Lamm GmbH

Neue Rolle in der Stadt

"Da standen wir dann auf der Straße und es fuhren Autos hupend an uns vorbei. Perro hat sich so erschrocken und hat die Hände vor die Ohren gemacht. Ich habe überlegt, wie das wohl ist, wenn man in eine Stadt mit Autos, Krach, Dreck, Müll, viel Armut und Problemen mit Alkohol und Drogen kommt, wo Menschen auf den Bürgersteigen liegen", erinnert sich Sternal.

In der Stadt sei der schweigsame Junge, der bei seiner Großmutter noch sanft die Daunen der Küken kraulte, plötzlich auch einem anderen Männerbild, dem Bild des Machos, unterworfen worden, erzählt sie: "Es war mir auch wichtig in dem Film zu zeigen, wie so ein ganz weicher, liebevoller Junge plötzlich in eine neue Rolle schlüpfen und sich einen Körperpanzer um seine Sensibilität bauen muss."

Was aus Perros Großmutter wird, erklärt der Film nicht. Kein Erzähler klinkt sich ein, Perro wird nicht nach ihr gefragt. Das plötzliche Bauvorhaben verdrängt sie aus Perros Alltag - ebenso wie seine alten Freunde.

Präsident Daniel Ortega geht brutal gegen Regierungsgegner vor

Lin Sternal zeigt ebenso wenig, wie das Dorf sich leert, die Gemeinschaft und damit die Kultur der Rama zerfällt. Sie zeigt nicht, wie Kritiker des Nicaraguakanals und friedliche Gegendemonstranten von der Polizei festgenommen, eingeschüchtert und körperlich angegangen werden. In den vier Jahren bleiben Lin Sternal, Julia Hönemann (Kamera), und Johannes Kunz (Ton) dicht an Perro, zeigen nur das, was er erlebt, wenn sie ihn über Monate hinweg begleiten. Dass sie die finanziellen Mittel dafür hatten, nennt Sternal einen "Glücksfall": Sie bekam Fördergelder der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg und der deutschen Kulturstaatsministerin für ihr Projekt.

Demonstranten gehen - wie hier 2015 in Managua - gegen "El Gran Canal" auf die StraßeBild: Reuters/O. Rivas

So sieht man im Film, wie Perros Cousin ihm beibringt, Fahrrad zu fahren, wie sich die beiden im Spaß mit einem Messer duellieren, aber nicht, wie sich im April 2018 im Land eine Protestwelle gegen Daniel Ortega  und seine Regierung erhebt; wie Sicherheitskräfte und Paramilitärs Regierungskritiker festnehmen, foltern, vergewaltigen und ermorden, wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit massiv eingeschränkt, mehr als 325 Menschen - so berichtet die Nachrichtenagentur AFP - getötet werden und rund 70.000 Nicaraguaner ins Exil gehen.

Und der Nicaragua-Kanal? Er wird nicht fertig

Ob es den Nicaragua-Kanal jemals geben wird, ist ungewiss: Das Vermögen des chinesischen Unternehmers Wang Jing, Chef der Kanal-Betreibergesellschaft HKND, soll zu einem großen Teil an der Börse verloren gegangen sein. "El Gran Canal" diente bisher aber Agrarunternehmen und Tourismusprojekten als Argument für Enteignungen, denn mit dem Kanalbau wurden auch ein Dutzend andere Bauprojekte genehmigt: darunter ein Flughafen, zwei Häfen, eine Pipeline und eine Eisenbahnschiene.

Nicaraguas autokratischer Präsident Daniel Ortega: 1979 kam er zum ersten Mal an die Macht Bild: AFP/I. Ocon

Bei den Feierlichkeiten rund um den Unabhängigkeitstag Nicaraguas tummeln sich Menschen auf den Straßen von Bluefields, wo Perro nun lebt. Schülerinnen und Schüler tanzen, trommeln und trompeten in glitzernden Kostümen und Schuluniformen. "Das Vaterland ist eine kreative Kraft. Es gibt uns einen Sinn für soziale Verantwortlichkeit. Respekt für unsere Rechte und Liebe für unsere Freiheit", schallt eine Stimme über die Lautsprecher. Fast regungslos schaut Perro dem Treiben zu.

Zur Weltpremiere von "Perro" bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin konnte Joshua McCree nicht anreisen. Er hat den Film, der seinen Spitznamen trägt, noch nicht einmal vollständig gesehen, erklärt Regisseurin Sternal und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Er finde eben nichts Besonderes daran, es sei ja nur sein Leben.

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