Wie Odessas Bürgermeister Staatsbürgerschaft und Amt verlor
16. Oktober 2025
In der Ukraine ist ein politischer Skandal ausgebrochen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dem Bürgermeister von Odessa, Hennadij Truchanow, per Dekret die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen.
Grund für die Maßnahme sei eine "nachgewiesene russische Staatsbürgerschaft einiger Personen", teilte das Präsidialamt mit, ohne Namen zu nennen. Auch wenn der Name des Politikers in den offiziellen Mitteilungen nicht erwähnt wurde, bestätigten verschiedene Quellen in Selenskyjs Administration diese Information nahezu offen.
Laut DW-Quellen entzog der Präsident auch dem einstigen Parlamentsabgeordneten Oleh Zarjow sowie dem Balletttänzer Serhij Polunin, die seit langem in der Russischen Föderation leben, die ukrainische Staatsbürgerschaft.
Im Unterschied zu ihnen lebt der 60-jährige Hennadij Truchanow in der Ukraine, wo er seit 2014 dem Stadtrat der Millionenstadt Odessa vorstand. Zuletzt hatten im Jahr 2020 54,3 Prozent der Wähler für ihn gestimmt - wegen der geringen Wahlbeteiligung waren dies nur etwa 94.000 Stimmen.
Wie viele Staatsbürgerschaften hat Truchanow?
Vorwürfe, gleich mehrere Staatsbürgerschaften zu haben, verfolgen Truchanow schon seit vielen Jahren. Einer offen zugänglichen Polizeiakte aus dem Jahr 1998 zufolge, lebte Truchanow in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Rom und benutzte zwei ukrainische Pässe mit unterschiedlichen Geburtsdaten. Durch Europa reiste er angeblich mit einem griechischen Pass unter dem Namen Gennidas Ozopoulos.
Damals leitete er laut seiner offiziellen Biografie die Sicherheitsfirma "Captain & Co", doch bei den italienischen Behörden galt er damals als eine der Schlüsselfiguren der sogenannten "Ölmafia". Truchanow hat wiederholt bestritten, Verbindungen zur organisierten Kriminalität zu haben und eine griechische Staatsbürgerschaft zu besitzen.
2014, als Truchanow erstmals bei Kommunalwahlen antrat, veröffentlichten Medien Kopien von Dokumenten, die bestätigten sollten, dass Truchanow seinen ersten russischen Pass 1992 in Russlands Teilrepublik Dagestan erhielt, nachdem er aus dem Dienst in der sowjetischen Armee entlassen worden war. 2003 und 2011 ließ er sich angeblich neue Papiere ausstellen und war demnach in der russischen Stadt Sergijew Possad in der Region Moskau wohnhaft gemeldet.
Truchanow bezeichnete die Veröffentlichungen als "grobe Fälschung" von Eduard Hurwitz, seinem damaligen Gegner bei den Wahlen zum Stadtrat. 2016, knapp zwei Jahre später, entdeckten Journalisten des Projekts "Slidstvo.Info" den Namen des Bürgermeisters von Odessa in den "Panama-Papers". Die geleakten Unterlagen des panamaischen Offshore-Dienstleisters Mossack Fonseca führten in vielen Ländern zu Ermittlungen gegen Politiker und Prominente wegen Steuer- und Geldwäschedelikten. Aus den Papieren ging hervor, dass Truchanow Anteile an mehreren Offshore-Firmen besaß. Angegeben war dort seine Adresse in Russland.
Aber erneut bestritt Truchanow, etwas mit Offshore-Firmen zu tun zu haben und russischer Staatsbürger zu sein. Zu seiner Verteidigung ließ er sich vom russischen Konsulat in Odessa und der regionalen Abteilung des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) bestätigen, keinen russischen Pass zu besitzen. Doch zwei Jahre später tauchte eine Kopie von Truchanows inzwischen ungültigem russischen Reisepass aus dem Jahr 2003 auf.
Seitdem wiederholt Truchanow immer wieder, dass selbst das Nationale Anti-Korruptions-Büro, das in drei Verfahren gegen ihn ermittelt, 2018 Beweise erhalten habe, dass er kein russischer Staatsbürger sei. Das stimmt aber nicht ganz. Die ukrainische Staatsanwaltschaft veröffentlichte tatsächlich eine Antwort des russischen Innenministeriums, wonach eine Person mit dem Namen und Geburtsdatum des Bürgermeisters von Odessa zwar mehrere russische Pässe besessen habe, diese aber 2017 annulliert worden seien. Später hieß es vom Stadtgericht in Sergijew Possad, Truchanow selbst habe die Annullierung beantragt.
Aber auch das setzte der Debatte um Truchanows Staatsbürgerschaften kein Ende. Während des Wahlkampfs 2020 veröffentlichte der Anwalt eines Konkurrenten Truchanows angeblich eine Kopie der Antwort des russischen Innenministeriums auf eine Anfrage, in der es wieder darum ging, ob der Bürgermeister von Odessa russischer Staatsbürger sei. Genau diese Antwort veröffentlichte nun auch der SBU, mit der der Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft im Fall Truchanow begründet wird.
In einem jüngeren Schreiben des sogenannten russischen Innenministeriums auf der besetzten ukrainischen Halbinsel Krim, das vom SBU veröffentlicht wurde, heißt es, Truchanow sei in der Stadt Jalta gemeldet und besitze einen im Dezember 2015 ausgestellten russischen Reisepass, dessen Kopie der SBU zeigt. Die DW konnte jedoch die zu diesem Dokument zugeordnete Steuernummer des russischen Staatsbürgers nicht ausfindig machen.
Was will Truchanow nun unternehmen?
Auch jetzt versucht Hennadij Truchanow wieder, sich zu rechtfertigen. "Alle Spekulationen über meine angebliche russische Staatsbürgerschaft beruhen darauf, dass Bürger der ehemaligen Sowjetunion unter bestimmten Umständen automatisch die russische Staatsbürgerschaft erhielten. Bei mir lagen solche Umstände jedoch nicht vor", erklärte er auf einem offiziellen Web-Kanal des Stadtrats von Odessa. Die jüngst vom SBU veröffentlichte Kopie des russischen Passes sei eine Fälschung, da er sich zum Zeitpunkt der Ausstellung des Dokuments in der Ukraine aufgehalten habe.
Truchanow will den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft vor dem Obersten Gericht der Ukraine anfechten. Bisher hatte damit aber noch keiner der Betroffenen Erfolg. So wiesen die Richter im Oktober 2022 die Klage des Geschäftsmanns Wadym Alperin ab, der ebenfalls aus Odessa stammt und den das Nationale Anti-Korruptions-Büro einst als "Schmuggel-König" bezeichnete. Das Gericht betonte, dass der freiwillige Erwerb der Staatsbürgerschaft eines anderen Staates eine Rechtsgrundlage für den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft darstelle.
Seit Beginn der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj zunehmend Inhabern russischer, aber auch israelischer, rumänischer oder armenischer Pässe die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen. Es handelt sich dabei um Politiker und führende Kirchenvertreter, die Verbindungen zu Russland unterhalten.
Was wird jetzt aus dem Bürgermeisterposten?
Mit dem Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft verliert Truchanow sein Amt als Bürgermeister. Er liegt schon seit 2019 im Streit mit Wolodymyr Selenskyj, als dieser nach seinem Amtsantritt als Präsident der Ukraine versuchte, mehr Einfluss in der Stadt zu gewinnen. Die tragischen Folgen der Überschwemmungen Ende September 2025, bei der zehn Menschen in Odessa ums Leben kamen, bieten Selenskyj offenbar nun Gelegenheit für eine Offensive. "Wer trägt die Schuld? Alles muss konsequent und fair geklärt werden. Wir werden uns der Odessa-Frage annehmen", erklärte Selenskyj in dem Zusammenhang.
"Klären" will Selenskyj die Lage durch einen vollständigen Regierungswechsel in der Region. Er kündigte an, wie in anderen Front-Städten auch in Odessa eine Militärverwaltung einzurichten. Geführt werden soll sie von Serhij Lyssak, den Selenskyj bereits von der Leitung der Regionalverwaltung Dnipropetrowsk entbunden hat.
Die Aufgaben des Bürgermeisters von Odessa hat unterdessen laut einer offiziellen Mitteilung vom 16. Oktober der Sekretär des Stadtrats, Ihor Kowal, übernommen. Gemäß Gesetz gehen im Falle einer vorzeitigen Beendigung der Machtbefugnisse eines Bürgermeisters dessen Aufgaben auf den Sekretär des Stadtrats über.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk