Wie realistisch ist ein Machtverzicht der Hamas?
23. April 2025
Wer könnte den Gazastreifen künftig regieren? Die Frage erhält seit Dienstag (22.04.) neue Aktualität. Denn ein namentlich nicht genannter palästinensischer Funktionär erklärte gegenüber der BBC, die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas habe ihre Bereitschaft signalisiert, die Regierungsmacht an eine andere palästinensische Behörde zu übergeben.
Dabei könne es sich um die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder eine neue, noch zu schaffende Institution handeln. Voraussetzung sei, dass zuvor "auf nationaler und regionaler Ebene" eine Verständigung erzielt werde, so der Funktionär.
Die Bemerkung erfolgte im Kontext eines von Ägypten und Katar ausgearbeiteten Entwurfs für weitere indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über einen erneuten Waffenstillstand. Dieser soll demnach fünf bis sieben Jahre dauern, hinzu käme der vollständige Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen und die Freilassung aller israelischen Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge.
Zu der Ankündigung dürfte nicht zuletzt eine erhebliche Schwächung der Hamas durch die Kriegsführung Israels im Gazastreifen beigetragen haben. Diese war eine Reaktion auf den Überfall der Hamas auf israelisches Territorium am 7. Oktober 2023.
Seinerzeit ermordete die Hamas, die in westlichen und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, rund 1200 Menschen und entführte weitere 250 Personen in den Gazastreifen. Im Gazastreifen selbst wurden nach Angaben der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörde vor Ort inzwischen mehr als 50.000 Menschen durch Israels Armee getötet. Die UN schätzen diese Zahlen als weitgehend glaubwürdig ein. Das UN-Menschenrechtsbüro meint, dass sie sogar eher noch zu niedrig sein könnten.
Demonstrationen gegen die Hamas
Es sei klar, dass die Hamas unter dem Druck des seit anderthalb Jahren andauernden Krieges um eine Reaktion nicht umhinkomme, heißt es in einer Analyse der von der politisch konkurrierenden Palästinensischen Autonomiebehörde vertriebenen Zeitung "Al Hayat al-Jadeeda". Die offenbar gestiegene Kompromissbereitschaft der Hamas dürfte auch auf die zuletzt beinahe täglich vorkommenden Demonstrationen von Bürgern im Gazastreifen zurückgehen, die den Rücktritt der Organisation forderten.
"Diese Demonstrationen spiegeln deutlich die Ablehnung der Herrschaft der Bewegung durch die Bevölkerung", heißt es in der Zeitung. Auch spiele die Überlegung eine Rolle, dass die Regierung in Teheran ihre regionalen Verbündeten in Nahost - und unter ihnen die Hamas-Bewegung - im Zuge der laufenden Verhandlungen mit den USA bald aufgeben werde, so die Prophezeiung.
Käme es tatsächlich zu einem Machtverzicht der Hamas, ginge im Gazastreifen eine lange Phase unveränderter politischer Herrschaft zu Ende. 2005 setzte der damalige israelische Premier Ariel Scharon den Abzug des israelischen Militärs wie auch der israelischen Siedler aus dem Gazastreifen durch.
Ein Jahr später gewann die Hamas bei den Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten die Mehrheit der Parlamentssitze. Bald darauf willigte sie in eine gemeinsame Regierung mit der konkurrierenden Fatah ein, die im wesentlichen die Autonomiebehörde beherrscht.
Die Koalition scheiterte jedoch nach wenigen Monaten. 2007 griffen bewaffnete Verbände der Hamas das Fatah-Hauptquartier an und brachten den gesamten Gazastreifen unter ihre Kontrolle. Seitdem regierte die Hamas weitgehend unangefochten den Gazastreifen.
Experte: Hamas-Entwaffnung ist Schlüsselfrage
Gerät ihre Macht nun ernsthaft ins Wanken? Dass es absehbar zu einer freiwilligen und substantiellen Machtübergabe der Hamas kommen könne, bezweifelt der Politologe Peter Lintl, der an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zum Nahostkonflikt forscht. Die eigentliche Hürde bestehe in der von Israel geforderten Demilitarisierung. Zwar könne er sich vorstellen, dass die Hamas bereit wäre, zugunsten einer Technokraten-Regierung auf ihre unmittelbare politische Machtausübung im Gazastreifen zu verzichten.
"Aber dass die Hamas sich darauf einließe, ihrer eigenen Entwaffnung zuzustimmen, scheint mir doch zweifelhaft. Und damit stellt sich die Frage, wer für die innere und äußere Sicherheit sorgen soll, wenn die Hamas weiter bewaffnet bliebe. Vermutlich wäre sie weiterhin stärker als jede staatliche bewaffnete Einheit", so der Nahost-Experte im Gespräch mit der DW. Dass Israel dem zustimmen könnte, erscheint zumindest nach derzeitigem Stand annähernd unvorstellbar.
Auch Marcus Schneider, Leiter des Regionalprojekts für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Beirut, ist skeptisch. Es sei zwar theoretisch denkbar, dass die Hamas den Gazastreifen tatsächlich verlasse. Fraglich sei aber, was dann an deren Stelle treten könnte.
"Innerhalb des Gazastreifens gibt es keine wirkliche Alternative", so Schneider. "Die einzige infrage kommende Lösung wäre die Palästinensische Autonomiebehörde. Aber die wird von Israel ja seit anderthalb Jahren blockiert", so Schneider. "Vergessen wird dabei, dass der Gazastreifen und das Westjordanland eine politische Einheit bilden. Dass beide von getrennten Einheiten regiert werden, ist langfristig schwer vorstellbar", so Schneider zur DW.
Schwer vorstellbare Alternativen
Wie eine Alternative zur Hamas-Herrschaft aussehen könnte, sei derzeit schwer vorstellbar, sagt auch Peter Lintl. Unter einer anderen israelischen Regierung wäre womöglich ein Kompromiss denkbar, so Lintl. "Aber die derzeitige israelische Regierung ist gegen eine palästinensische Selbstverwaltung - und ganz klar auch gegen einen israelischen Abzug aus dem Gazastreifen."
Im Gegenteil, Teile der derzeitigen Regierung propagierten eine israelische Neu-Besiedlung des Gazastreifens oder zumindest die Einrichtung großer dauerhafter israelischer Pufferzonen. Die derzeitige Pufferzone mache immerhin bereits rund 30 Prozent des Gazastreifens aus, so der Experte.
Auf palästinensischer Seite verschärft dies noch einmal die Sorgen vor einer Vertreibung der eigenen Bevölkerung.
Dass Israels derzeitige Regierung nach einer etwaigen Selbst-Entmachtung der Hamas irgendeiner neuen Form von palästinensischer Selbstverwaltung zustimme könne, hält Lintl bis auf Weiteres nicht für denkbar.
Ähnlich sieht es Marcus Schneider von der Ebert-Stiftung: Angesichts der israelischen Politik der letzten anderthalb Jahre scheine es relativ klar, dass Israel kein Interesse habe, dass sich im Gazastreifen eine neue politische Entität der Palästinenser bilde - wie auch immer diese zusammengesetzt und beschaffen wäre.
"Man hätte seit Beginn des Krieges ja mit alternativen Kräften reden können. Aber das ist nicht geschehen. Es besteht seitens Israels überhaupt kein Bedürfnis nach einer politischen Alternative."
Dieser Artikel wurde am 24.05. aktualisiert und präzisiert.