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Politik

Geschichtspolitik unter Putin und Xi

10. Mai 2022

Der willkürliche Umgang mit der eigenen Nationalgeschichte dient Xi Jinping ebenso wie Wladimir Putin zur Machtsicherung und Begründung ihrer Politik.

China Russland Wladimir Putin und Xi Jinping
Wladimir Putin und Xi Jinping bei ihrem letzten Treffen in Peking am 4. Februar, kurz vor Beginn des UkrainekriegsBild: Alexei Druzhinin/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/dpa/picture alliance

"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." Dieses Zitat aus George Orwells weltbekanntem Roman "1984" beschreibt in einem Satz, welche Bedeutung die Geschichte für die Politik hat. Die Journalistin Katie Stallard stellt das Zitat ihrem gerade erschienen Buch "Dancing on Bones" voran. Sie beschreibt darin, wie die Mächtigen in Russland, China und Nordkorea die Geschichte für ihre Zwecke nutzen.

Im Gespräch mit der DW sagt sie: "Autoritäre Regime wissen um die Macht der Geschichte. Es ist ein entscheidendes Werkzeug, um die Unterstützung des Volkes zu gewinnen." Geschichte erzeuge Legitimität, sei eng verbunden mit der Identität der Staatsbürger und habe für autoritäre Herrscher den Vorteil, dass man sie je nach Erfordernis manipulieren kann. "Wirtschaftliche Erfolge kommen und gehen. Die Geschichte ist das, worauf man sich verlassen kann", sagt Stallard.

Geschichte als Rechtfertigung des Ukrainekriegs

Dass ein revisionistisches Geschichtsverständnis tödliche Konsequenten haben kann, beweist aktuell der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Schon vor Ausbruch des Kriegs ging Putin unter die Historiker. Im Juli 2021 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem Titel "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer".

Am diesjährigen Tag des Sieges nahm auch ein historischer T-34 Panzer der Sowjetära teilBild: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

In dem Text von 2021 wirft er dem Westen einen "gefährlichen Revisionismus" vor. Diesem will Putin als "allwissender Staatsmann", der die "eine historische Wahrheit" kennt, entgegentreten, beschreibt der Historiker Andreas Kappeler in einer Analyse für die Zeitschrift "Osteuropa". Die Wahrheit laut Putin ist: Russen und Ukrainer seien schon immer eine einzige geistige Einheit gewesen. Es sei der Westen, der versuche, die Ukraine zu einem "Anti-Russland" aufzubauen. Das werde Russland niemals gestatten und notfalls mit Waffengewalt verhindern. Am 9. Mai, an dem Russland in der Tradition der Sowjetunion den Sieg über Nazideutschland feiert, wiederholte Putin seine Sicht der Dinge und ging noch weiter und behauptete, dass der Westen einen Angriff auf Russland geplant hätte.

Putins sowjetisches Weltbild

Das Narrativ von der vermeintlich russisch-ukrainischen Einheit, die der Westen hintertreibt, ist Teil eines bipolaren Weltbilds und eines Denkens in Großmachtkategorien, wie Kappeler feststellt. Für Putin spielen nur die mächtigen Länder - etwa Russland, die USA und China - eine Rolle und "kleine" Staaten wie die Ukraine haben keine eigene Agenda. Die Großmächte wiederum stehen in einem ideologischen Wettbewerb, der mit allen Mitteln geführt wird.

Schon Diktator Stalin inszenierte sich als Vereiniger der Völker der Sowjetunion, die allerdings mit großer Brutalität durchgesetzt wurde. Hier auf einem Gemälde des Malers Boris W. Joganson mit dem Titel "Unser weiser Führer, lieber Lehrmeister"Bild: akg-images/picture alliance

Diese Sicht Putins, die Kappeler in zentralen Punkten als Verschwörungstheorie qualifiziert, wird mit einem ethnischen Nationalismus und der These, das angeblich Nazis die Macht in der Ukraine übernommen hätten, verbunden. Über die vermeintlichen Nazis wird die Brücke geschlagen zum nach Kappeler "wichtigsten Element der russischen Integrationsideologie: dem sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland." Putins Weltbild ist das eines Geheimdienstmitarbeiters der untergegangen Sowjetunion.

Xi Jinping: Steuermann der Geschichte

Viele Muster der ethno-nationalistischen Geschichtsauffassung Putins und seiner Unterstützer im Kreml finden sich auch bei chinesischen Funktionären. Dabei will China es besser machen als die Sowjetunion, die Chinas Präsident Xi Jinping immer wieder als warnendes Beispiel nennt. Die Sowjetunion sei zerfallen, weil es ihren Führern nicht gelungen sei, den "historischen Nihilismus" auszumerzen, der den Glauben an die kommunistische Sache unterminiert habe.

Ein Souvenirgeschäft in Peking bietet Porzellanteller von Xi Jinping (links) und Staatsgründer Mao Zedong anBild: Andy Wong/AP Photo/picture alliance

Um dem Schicksal der Sowjetunion zu entgehen, hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) unter anderem 2021 eine aktualisierte offizielle Geschichte der Partei verfasst, die stark auf Xi Jinping zugeschnitten ist. Die "Chinesische Volkszeitung", das Presseorgan der Partei, schreibt über Chinas Führer: "In dieser neuen Ära hat uns Generalsekretär Xi Jinping geholfen, die Mechanismen der Evolution und die im langen wendungsreichen Fluss der Zeit und im globalen Sturm wirkenden Gesetze der Geschichte zu verstehen. Er hat an jeder Kreuzung die richtige Entscheidung getroffen." Das Narrativ der KPCh wird in der Presse, den sozialen Medien, im Kino und Computerspielen verbreitet. Alternative Sichtweisen sind illegal.

Die Partei garantiert die Einheit

Die offizielle Parteigeschichte legt auf Jahre fest, was in China gedacht und geschrieben werden darf. Im Kern geht es dabei um einen "ideologischen Rahmen, der immer größere und weitreichendere Eingriffe der Partei in die Politik, Wirtschaft und Außenpolitik rechtfertigt", so der ehemalige australische Außenminister und Chinakenner Kevin Rudd.

Die Machtfülle der KPCh wird historisch gerechtfertigt: Vor der Machtübernahme der Kommunisten war China schwach und zerstritten. Die Uneinigkeit ermöglichte es dem Westen, das Land zu demütigen. Nur die KPCh, so der Subtext, sei in der Lage, das Land zu einigen und damit zu alter Stärke zu führen.

Mit viel Pomp und Pathos inszenierten Darsteller die 100-jährige Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas im Juni 2021Bild: Thomas Peter/Reuters

Die KPCh schreibt damit fort, was chinesische Nationalisten im 19. Jahrhundert begonnen hatten, wie Bill Hayton in seinem Buch "The Invention of China" belegt. Damals wurde der Vielvölkerstatt China rückwirkend zu einer han-chinesischen Einheitskultur umgedeutet. Die Traditionen der Mandschus, der Mongolen und vieler anderer Völker wurden aus der Geschichte herausgeschrieben, um der Vision eines schon immer vereinigten Chinas Platz zu machen. Den Einheitswillen bekommen heute die Uiguren und Tibeter zu spüren, die in Umerziehungslager gesteckt, deren Sprache und Kultur unterdrückt werden.

Dazu passt, dass Xi Jinping 2013 vor dem Zentralkomitee der KPCh auf einem Vortrag zur Bedeutung der Geschichte den konfuzianischen Gelehrten Gong Zhishen mit den Worten zitiert: "Um ein Land zu zerstören, muss man zuerst seine Geschichte auslöschen." Er meinte dies als Warnung, die 5000-jährige Einheit Chinas zu hinterfragen, die in der Version der KPCh freilich eine Fiktion ist. Es ist zwar richtig, dass es eine gewisse Kontinuität der Sprache und der konfuzianischen Lehre gab, aber es ist falsch, dass die Han-chinesische Kultur im heutigen Staatsgebiet der Volksrepublik stets vorherrschend gewesen wäre. Tatsächlich war die Ming-Dynastie (1368-1644) die letzte, in der Han-Chinesen regierten. Über Jahrhunderte zuvor herrschten Dynastien aus anderen Völkern, wie den Mongolen, über den größten Teil des heutigen Chinas. Die letzte Dynastie wurde von den Manchu gegründet und herrschte von 1644 bis zur Ausrufung der Republik am 1. Januar 1912.

Katie Stallard: Dancing on Bones, History and Power in China, Russia and North Korea, Oxford University Press 2022.Bild: Oxford University Press

In dem Willen, eine einheitliche Geschichte zu entwerfen, aus der das heutige Russland und die Volksrepublik China ohne Bruch hervorgegangen seien, schließt sich der Kreis zu Putin, der die Geschichte der Ukraine leugnet bzw. verzerrt, um Russen und Ukrainer zu einem Volk erklären zu können.

"Wiedergewonnenes Territorium"

Hinzu kommt in beiden Systemen eine Besessenheit für territoriale Fragen. Putins historische Einlassungen klammern die Verbrechen der Stalinzeit weitgehend aus, widmen sich aber ausführlich dem Territorium der Sowjetunion, das auch die Ukraine, Belarus, die baltischen Staaten, die Staaten Zentralasiens und andere umfasste.

China argumentiert beispielsweise im Südchinesischen Meer seit Jahren historisch. Es erklärt ein Meer von der Größe des Mittelmeers zu seinem Hoheitsgebiet und führt dabei fragwürdige historische Belege an. Zugleich weigert es sich, die Entscheidung des internationalen Schiedshofs, die alle historischen Ansprüche für nichtig erklärt hat, anzuerkennen.

Chinas Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer wurden vom Internationalen Schiedshof in Den Haag zurückgewiesen

Für Stallard hat die Hinwendung zu den territorialen Fragen zwei Funktionen: Sie betont einerseits die Demütigungen der Vergangenheit: Uns wurde etwas weggenommen, was uns rechtmäßig zusteht. Und betont zugleich die Stärke der aktuellen Führer: Wir holen uns zurück, was uns gehört. "Es geht darum, die eigene Souveränität zu verteidigen, sich stark zu fühlen und stolz sein zu können darauf, dass man sein eigenes Land verteidigt."

Keine konkurrierenden Ansichten

Auch wenn es in der Ausprägung der historischen Narrative in Russland und China inhaltliche Unterschiede gibt (etwa Chinas stärker ausgeprägter Personenkult um Xi), werden die Muster deutlich. Beide Systeme behaupten eine Einheit und Kontinuität, die so nie bestanden hat. Wer sie in Russland oder in China infragestellt, muss mit harter Strafe rechnen. Sie konstruieren einen äußeren Feind -  den Westen -, vor dem nur sie - Putin respektive Xi - die Nation bewahren können und verknüpfen die Geschichte mit territorialen Ansprüchen. Stallard schreibt dazu: "Der Wille, die Geschichte für politische Zwecke zu manipulieren, findet sich nicht nur in autoritären Systemen." Aber nur autoritäre Systeme gehen gegen abweichende Meinungen vor.

Mitarbeit: Hao Gui