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Meinungsfreiheit

Wie Russland unliebsame Lehrer bekämpft

Alexey Strelnikov
17. Juli 2024

Wer in Russland den Kreml offen kritisiert, riskiert seine Freiheit. Viele Pädagogen haben deshalb ihre Heimat verlassen, andere protestieren auf neuen Wegen gegen die Staatsideologie.

Schülerinnen und Schüler einer 9. Schulklasse im Physikunterricht
Unterricht in Jekaterinburg (Symbolbild)Bild: Donat Sorokin/TASS/imago images

Im April 2022 diskutiert Natalia Taranuschenko, eine 65-jährige Lehrerin aus Protwino bei Moskau, mit ihren Schulkindern während der im Stundenplan vorgesehenen "Stunde der Gutherzigkeit" über den Krieg in der Ukraine. Dabei zeigt sie ein Video aus der ukrainischen Stadt Butscha und kritisiert, Russland habe dort "gegen jede mögliche Norm des Völkerrechts verstoßen," während zweiundzwanzig Prozent der eigenen, russischen Bevölkerung "sich nicht einmal eine ordentliche Toilette leisten können".

Am Ende der Stunde entschuldigt sich die Lehrerin für den emotionalen Vergleich und betont, dass es sich um ihre eigene Meinung gehandelt habe. Eines der Kinder fragt, ob Taranuschenko Angst habe, ihren Job wegen einer solchen Aussage zu verlieren. "Für das, was ich euch jetzt sage - nein", antwortet sie selbstbewusst. Einer der Schüler berichtet jedoch zu Hause seinen Eltern von der "Stunde der Gutherzigkeit." Die Eltern sind empört und zeigen Taranuschenko an.

Als die Lage ernst für sie wird, beschließt die Pädagogin, Russland zu verlassen. Sie flieht ins benachbarte Armenien, wo sie von der Polizei festgenommen und später gegen die Auflage, das Land nicht zu verlassen, wieder freigelassen wird. Zurzeit entscheiden die armenischen Behörden, ob sie dem Auslieferungsersuchen ihrer russischen Kollegen nachkommen werden.

Abwanderung wissenschaftlich ausgebildeter Fachkräfte

Der Fall Natalia Taranuschenko, der wie viele weitere in unabhängigen russischen Medien dokumentiert wurde, ist keine Ausnahme. Gleich zu Beginn des Kriegs in der Ukraine hatten sich Tausende Pädagogen in Russland gegen die Politik ihres Landes ausgesprochen. Viele von ihnen verloren dadurch ihren Job. Manche kündigten aus Protest selbst; andere wurden dazu gezwungen.

Laut einer Studie des Davis Centre for Advanced Russian Studies der Harvard University flohen etwa 6000 Russinnen und Russen mit einem akademischen Titel nach Europa. Einer ähnlichen Studie des Forschungsprojekts Outrush zufolge zogen weitere 10.000 Mitarbeiter des russischen Bildungswesens nach Israel. Die Ergebnisse beider Studien stellte der russische Historiker und Soziologe Dmitri Dubrowskij in einem Online-Forum der Deutschen Sacharow-Gesellschaft vor.

Die Jugend auf Linie trimmen: Präsident Putin hat das Thema "Patriotismus" an Russlands Schulen eingeführtBild: Gavriil Grigorov/Kremlin Pool/ZUMA Press Wire/picture alliance

Dort hieß es, die Militärzensur in Russland werde von Jahr zu Jahr strenger. Immer häufiger würden Strafverfahren gegen andersdenkende Lehrer eröffnet, wie im Fall Taranuschenko. Aus Angst, denunziert zu werden, würden viele Pädagogen politische Themen im Unterricht vermeiden, klagt eine russische Bildungsforscherin gegenüber der DW. Lehrerinnen und Lehrer mit einer klaren Anti-Kriegsposition würden sich in bestimmten Gruppen austauschen, um Methoden des kritischen Denkens bei ihren Schülern zu entwickeln. "Leider beobachten wir eine gewisse Abkapselung der Lehrkräfte. Sie bewegen sich ausschließlich in ihrer Blase, in der sie sich relativ sicher fühlen. Damit können sie sich aber nicht mit Kollegen aus anderen Schulen austauschen", sagt die Wissenschaftlerin, die ihren Namen aus Angst vor Verfolgung nicht nennen möchte.

Die Unis überwachen die Gesinnung ihrer Studierenden ...

Die heutigen Machthaber in Russland würden versuchen, das Überwachungs- und Kontrollsystem an den Universitäten zu verstärken, kritisiert Dmitri Dubrowskij. Die Obrigkeit sähe Hochschulen als einen Ort an, von dem eine Bedrohung ausgehe. "Es gibt sogar einen neuen Beruf an den Universitäten: den stellvertretenden Rektor für Bildungspolitik, der das ideologisch korrekte Verhalten von Studierenden überwacht", sagt der Soziologe. Um Dozenten mit oppositionellen Ansichten zu bekämpfen, würden die Behörden sie aktiv stigmatisieren und als sogenannte "ausländische Agenten" brandmarken. Dubrowskij selbst wurde wegen seiner Anti-Kriegshaltung von den Justizbehörden im April 2022 als "ausländischer Agent" eingestuft.

Dieses Etikett habe eine psychologische Wirkung auf andere Lehrkräfte, unterstreicht ein russischer Student, der seinen Namen ebenfalls nicht veröffentlichen möchte. Die Stimmung der meisten Lehrkräfte an seiner Universität beschreibt er im DW-Gespräch als "nostalgisch nach der alten Sowjetzeit": "Sie sind davon überzeugt, dass Russland sein altes historisches Recht wieder herstellt, das mit Füßen getreten wurde. Sie bezeichnen Kollegen mit dem Status eines 'ausländischen Agenten' als Verräter." Sein Dozent habe ihm verboten, in einem wissenschaftlichen Artikel Verweise auf "ausländische Agenten"-Literatur zu verwenden.

... und schließen auch mal unliebsame Fakultäten

Die Überwachung des ideologisch "korrekten" Verhaltens von Studierenden und Lehrkräften an den führenden russischen Universitäten beziehe sich auch auf die soziale Netzwerke, berichtet Dmitri Dubrowskij. Parallel dazu gäbe es zusätzliche Kurse, in denen die Geschichte umgeschrieben und die Weltanschauung der Studierenden auf den Kopf gestellt werde. "Einige Lehrkräfte widersetzen sich dem Ganzen auf recht raffinierte Weise: Sie lesen es dem Kurs Wort für Wort vor, aber in einem spöttischen Ton."

In Russlands Schulen wird bereits seit einem Jahr ein neues, umgeschriebenes Geschichtsbuch eingesetztBild: Sergey Bulkin/NEWS.ru/Globa Look Press/picture alliance

Manchmal gingen die Behörden sogar so weit, ganze Fakultäten zu schließen, wenn der beträchtliche Teil der Belegschaft keine Loyalität gegenüber den Machthabern zeige. Das sei zuletzt der Europäischen Universität in Sankt Petersburg passiert, an der die gesamte Fakultät für Politikwissenschaft aufgelöst worden sei.

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