Afghanistan: Angst vor Abschiebungen in ein "sicheres" Land
11. Juni 2025
Die Taliban rufen alle geflüchteten Afghanen zur Rückkehr auf und versprechen ein Leben in Frieden. Mullah Mohammad Hassan Akhund, der Vorsitzende des Ministerrats der Taliban-Regierung, versprach am Samstag in seiner Botschaft zum Opferfest allen aus dem Land Geflohenen eine allgemeine Amnestie. Afghanistan sei sicher, alle könnten zurückkehren, erklärte er.
"Die Verursacher der Gewalt sind nun an der Macht zum Beispiel als Leiter des Innenministeriums. Natürlich behaupten sie jetzt, das Land sei sicher", sagt die ehemalige Parlamentsabgeordnete Nilofar Ibrahimi im Gespräch mit der DW. Sie nennt dabei den derzeitigen Innenminister der Taliban-Regierung, Siradschuddin Haqqani.
Haqqani wird für zahlreiche tödliche Anschläge bis 2021 in Afghanistan verantwortlich gemacht und steht wegen des Verdachts, "grenzüberschreitende Angriffe auf die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und der Koalition in Afghanistan koordiniert und unterstützt zu haben", auf der Most-Wanted-Liste des FBI. Trotz seiner Vergangenheit spielt er heute eine Schlüsselrolle im Machtapparat der Taliban und ist insbesondere für Sicherheit und Polizei zuständig.
"Die Taliban unterdrücken jeden Widerstand und schüchtern die Bevölkerung ein", sagt Ibrahimi, die nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen musste. Sie fügt hinzu: "In der Provinz Badakhshan im Nordosten des Landes gehen sie gegen Bauern vor, die nicht wissen, was sie noch anbauen sollen, weil die Taliban den Mohnanbau verboten haben."
In Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, arbeiten bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Der Opiumanbau war im Vergleich zu anderen Feldfrüchten selbst in Zeiten der Dürre, deutlich ertragreicher und bot vielen Bauern eine sichere Einnahmequelle. Die Taliban haben auf Befehl ihres obersten Führers Hibatullah Akhundzada den Mohnanbau im ganzen Land verboten - ohne eine Alternative anzubieten. Nun stehen die Bauern vor dem Nichts und wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen.
Mangelernährung und Zwangsehen
Seit der Machtübernahme der Taliban ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Land zählt etwa 41,5 Millionen Einwohner. Rund 43 Prozent davon sind laut dem United Nations Population Fund Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren.
Laut einem aktuellen Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (März 2025) benötigt jedes zweite Kind in Afghanistan dringend Nothilfe. Die Zahl der akut mangelernährten Kinder steigt stetig. Viele minderjährige Mädchen werden zwangsverheiratet, weil ihre Familien nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.
"Es sind Kinder, denen nicht nur das Recht auf Bildung, persönliche Entwicklung und sogar auf kindliches Spielen vorenthalten wird. Sie sind auch mit schmerzhaften Folgen wie Frühgeburten, extremer Armut, familiärer Gewalt und sozialer Isolation konfrontiert. Und das in einer Gesellschaft, in der die Unterstützungsstrukturen für Frauen und Kinder praktisch zusammengebrochen sind", schreibt eine Aktivistin des Frauennetzwerks Purple Saturday an die DW.
Diese Aktivistinnen vor Ort versuchen durch ihre Netzwerk Informationen an Frauen und junge Mädchen weiterzugeben und sie auch privat zu unterrichten. Unter den Taliban dürfen Frauen nicht mehr an Hochschulen studieren. Weiterführende Schulen nach der fünften Klasse wurden für Mädchen verboten. "Mehr denn je brauchen wir jetzt die echte und bedingungslose Solidarität der internationalen Gemeinschaft. Lasst uns nicht allein."
"Lieber hier verstecken"
Viele verzweifelte Mütter sind in die Nachbarländer geflohen - so auch Diba, Mutter von drei Kindern. Vor der Machtübernahme arbeitete sie im afghanischen Bildungsministerium und war Mitbegründerin einer Einrichtung zur Förderung von Frauen, die später von den Taliban geschlossen wurde. Nach Monaten unter der Herrschaft der Taliban sah sich die Frauenrechtsaktivistin gezwungen, ihr Land zu verlassen und nach Pakistan zu fliehen.
"Ich habe all meine Habseligkeiten verkauft und bin geflohen", sagte sie im Gespräch mit der DW. Sie hatte Angst, nach Ablauf ihres Visums aus Pakistan abgeschoben zu werden. Afghanische Flüchtlinge werden derzeit massenhaft aus Pakistan ausgewiesen. Allein im April und Mai sollen Schätzungen zufolge rund 200.000 Menschen abgeschoben worden sein.
"Ich werde mich lieber hier verstecken als nach Afghanistan zurückzukehren", sagt Diba. In Afghanistan unter den Taliban darf sie sich als Frau nicht einmal frei in der Gesellschaft bewegen, geschweige denn eine Arbeit finden, um ihre Familie zu ernähren. Ihre Töchter werden kein selbstbestimmtes Leben haben. Sie hofft, einen Weg zu finden, um sich und ihre Kinder in ein sicheres Drittland bringen zu können.
Auch andere Länder planen, afghanische Geflüchtete abzuschieben. Der Iran etwa hat angekündigt, in diesem Jahr vier Millionen Afghaninnen und Afghanen in ihr vermeintlich "sicheres Heimatland" zurückzuführen. Allein im Mai wurden 15.000 Menschen abgeschoben. "Wir werden sie willkommen heißen", versprechen die Taliban.
Mitarbeit: Parwaneh Alizadah