Ukraine: Wie sicher sind Politiker im eigenen Land?
4. September 2025
Lwiw, Westukraine, am 30. August: Andrij Parubij läuft eine Straße entlang, als ein als Lieferant verkleideter Mann ihm folgt und plötzlich das Feuer auf ihn eröffnet. Mit mehreren Schüssen tötet der Mann den früheren ukrainischen Parlamentschef auf offener Straße. Eine Überwachungskamera filmt, was später die Ukraine erschüttert. Das ganze Land diskutiert über die Tat und darüber, inwieweit Attentate auf Politiker, Aktivisten und Prominente Element eines hybriden Krieges Russlandsin der Ukraine geworden sind. Experten zufolge dienten solche Taten dem strategischen Ziel des Kremls, die ukrainische Gesellschaft zu destabilisieren und zu demoralisieren.
Parubij war während der "Maidan- Revolution" 2013/2014 einer der Anführer der pro-europäischen Proteste gegen den damaligen und später nach Russland geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Nach dem Machtwechsel war Parubij nationaler Sicherheitschef - während der Annexion der Krim durch Russland und dem Beginn der Kämpfe im Osten der Ukraine, und ab 2016 Parlamentspräsident. Er blieb bis 2019 in diesem Amt. Später gehörte er dem Ausschuss für Sicherheit, Verteidigung und Geheimdienste an. Mit Beginn von Russlands umfassender Invasion im Jahr 2022 trat er der Territorialverteidigung bei.
Mutmaßlicher Täter geständig
Zwei Tage nach dem Attentat wurde der 52-jährige Tatverdächtige Mychajlo S. festgenommen. Laut Polizei war das Verbrechen gut vorbereitet, es sei "kein Zufall" und es gebe eine "russische Spur". Medien berichteten unter Berufung auf Quellen in den Behörden, russische Geheimdienste hätten Mychajlo S. manipuliert: Sie hätten dem mutmaßlichen Täter versprochen, ihm Informationen über dessen Sohn zu geben, der als ukrainischer Soldat im Krieg gefallen war.
Vor einem Gericht in Lwiw bekannte sich Mychajlo S. schuldig. Er bestritt, vom russischen Geheimdienst erpresst worden zu sein und erklärte, er hoffe, schnell verurteilt zu werden. "Ich möchte gegen Kriegsgefangene ausgetauscht werden, damit ich die Leiche meines Sohnes finden kann", sagte er.
"Ich war schockiert, wie tief die russischen Besatzer gefallen sind, dass sie einen Vater mit der Rückgabe der Leiche seines Sohnes erpressten, damit dieser jemanden vom Maidan tötet", sagte der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko in seiner Rede bei der Gedenkfeier für Parubij. Poroschenko erklärte, dass "alle Anführer des Maidan und Andrij Parubij als dessen Symbol von Russland als Feinde gebrandmarkt sind".
Russische Sonderoperationen
"Die russischen Geheimdienste haben ihre Informationsoperationen intensiviert. So kompensieren sie ihre Fehler an der Front," sagt Oleksandr Kowalenko, Experte am Dmytro-Tymtschuk-Zentrum für Sicherheitsstudien. "Analysen zeigen, dass sie nun versuchen, in der ukrainische Medienlandschaft das Narrativ zu verbreiten, wonach nicht Russland, sondern die ukrainischen Staatsmacht am Krieg schuld ist," so Kowalenko. Dies decke sich mit den Aussagen von Mychajlo S., der ausgesagt hatte, das Attentat sei "seine Rache an der ukrainischen Staatsmacht" gewesen.
"Sie haben eine gebrochene Person ausgenutzt, die von Psychologen gut bearbeitet werden konnte, damit sie diesen Mord begeht und dann die Narrative äußert, die Russland braucht", so Kowalenko im DW-Gespräch. Ihm zufolge setzten Russlands Geheimdienste für ihre Ziele in der hybriden Kriegsführung zunehmend Ukrainer ein - für Brand- und Bombenanschläge sowie für Attentate.
Versäumnisse ukrainischer Geheimdienste?
"Diese schreckliche Geschichte wirft viele Fragen bezüglich der ukrainischen Geheimdienste und die Fehler auf, die die Behörden und wir alle schnell korrigieren müssen. Die Rekrutierung und Instruktion lief über den russischen Messenger Telegram", schreibt Iryna Heraschtschenko von der Oppositionspartei "Europäische Solidarität" auf Facebook. Sie fordert ein Ende der Anonymität auf der Plattform, damit alle Nutzenden identifiziert werden könnten. Ferner verlangt sie, dass Familien von Toten, Vermissten und Gefangenen mehr psychologische Unterstützung bekommen: "Man überlässt sie ihrem Schicksal; das macht sie zu einer leichten Beute für feindliche Geheimdienste, die sie rekrutieren."
Der ehemalige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU), Iwan Stupak, bestätigt, dass Russland für seine Operationen in der Ukraine Teenager, Menschen in Geldnöten, Drogenabhängige oder Angehörige von Verschwundenen oder Inhaftierten auswählt, weil diese leicht zu manipulieren seien. "Unseren Diensten liegen viele Erkenntnisse über Russlands Versuche vor, Personen zu bestechen oder zu erpressen, um sie zu Anschlägen auf Militärfahrzeuge, Einberufungsstellen der Armee, Polizeiwachen, regionale SBU-Vertretungen oder an öffentlichen Orten zu bewegen, damit möglichst viel Blut fließt", sagt Stupak der DW und fügt hinzu, dass dem SBU für effektive Gegenmaßnahmen Mitarbeiter fehlten, da viele an vorderster Front im Einsatz seien.
"Enthauptungsschläge als Strategie"
Der Mord an Parubij ist nur einer in einer Reihe von aufsehenerregenden Morden an ukrainischen Politikern und Aktivisten seit Beginn der russischen Invasion. Gjundus Mammadow, der von 2019 bis 2022 stellvertretender Generalstaatsanwalt war, analysiert für die Zeitung "Ukrajinska Prawda" bisherige Attentate auf bekannte Personen. Er führt die Morde an der Politikerin Iryna Farion, die im Juli 2024 vor ihrem Haus erschossen wurde, und dem Aktivisten Demjan Hanul aus Odessa im März 2025 an, dazu eine Reihe von Angriffen auf den Aktivisten Serhij Sternenko sowie zwei vom ukrainischen Geheimdienst vereitelte Anschläge auf den Journalisten Dmytro Gordon. Mammadow schließt nicht aus, dass alle diese Fälle miteinander verbunden sind.
"Zusammen bilden sie eine Kette, die einen systematischen Charakter russischer Strategie aufweist, die möglicherweise staatlich gelenkt ist", schreibt Mammadow. Ihm zufolge führt Russland gezielt "Enthauptungsschläge" nicht nur gegen das ukrainische Militär, sondern auch gegen Politiker und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch, die der Kreml als "feindliche Symbole" betrachtet. "Russland will Chaos stiften, das politische Leben lähmen und der Ukraine diejenigen nehmen, die die Gesellschaft voranbringen können."
Wie steht es um den Personenschutz?
Nach der Ermordung von Andrij Parubij ist eine Debatte darüber entbrannt, ob der Personenschutz in der Ukraine ausreiche. Die zuständige Behörde für Staatsschutz erklärte, dass sie laut Gesetz nur einigen aktiven Spitzenpolitikern und Ministern Personenschutz gewähre. Auch alle Familienangehörigen, die mit ihnen zusammenleben oder sie begleiten, fielen darunter. "Nach Ende ihrer Amtszeit bekommen sie noch ein Jahr lang staatlichen Schutz", schreibt die Behörde in sozialen Netzwerken.
Oleksandr Kowalenko betont, dass der Staat nur begrenzte Ressourcen habe. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sollten daher selbst auf ihre Sicherheit achten. "Es ist unmöglich, alle bekannten Ukrainer zu schützen, wie es auch unmöglich ist, zu kontrollieren, ob alle, die eine patriotische Haltung vertreten und aktiv sind, von feindlichen Geheimdiensten oder deren Agenten observiert werden", bedauert Kowalenko.
Die Experten raten Politikern, Persönlichkeiten und Aktivisten, auf Menschen in ihrem Umfeld sowie auf unbekannte Autos in der Nähe ihres Wohnorts zu achten. Bei Verdacht sollten sie sich an die Polizei wenden. Es sei zudem sinnvoll, selbst gegen Bezahlung einen Sicherheitsdienst zu beauftragen, was völlig legal sei.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk