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KonflikteIsrael

Wie stark ist die Hamas zwei Jahre nach dem 7. Oktober?

Cathrin Schaer mit Agenturen
6. Oktober 2025

Die militärische Führung der Hamas ist stark dezimiert, auch viele ihrer Kämpfer wurden getötet. Doch es ist der israelischen Armee bisher nicht gelungen, sie im Gazastreifen auszuschalten. Ist das überhaupt möglich?

Angriff auf Gebäude in Gaza-Stadt
Trotz massiver Angriffe: Israelischen Angaben zufolge könnten sich noch 3000 Hamas-Kämpfer in Gaza-Stadt aufhaltenBild: Khames Alrefi/Anadolu Agency/IMAGO

Vor zwei Jahren begann Israel seine Militärkampagne gegen die Hamas in Gaza. Doch trotz der überlegenen Kampfkraft des israelischen Militärs und obwohl führende israelische Politiker darauf beharren, die Hamas völlig zu besiegen, ist die militante Gruppe Beobachterinnen und Beobachtern zufolge zwar stark angeschlagen, aber nicht am Ende.

"Die Hamas hat viele militärische Rückschläge erlitten, kann sich aber noch immer neu formieren und verfügt weiterhin über eine Befehls- und Kontrollgewalt", sagt Marina Miron der DW, Militärexpertin am Defence Studies Department des King's College London.

Bevor Israel die laufende Militärkampagne startete, zählte die militante Gruppe Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 30.000 Kämpfer. Nach Angaben israelischer Sicherheitsdienste wurden 17.000 bis 23.000 davon während der vergangenen zwei Jahre getötet. Israel setzte die Offensive als Antwort auf den Angriff der Hamas auf israelisches Gebiet in Gang, bei dem am 7. Oktober 2023 fast 1200 Israelis getötet worden waren.

Das israelische Militär hat jedoch keine gesicherten Beweise für die Anzahl der getöteten Hamas-Kämpfer vorgelegt und viele Fachleute gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl deutlich niedriger ist.

Die regierungsunabhängige US-Organisation Armed Conflict Location and Event Data (ACLED) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Daten über gewaltsame Konflikte und globale Krisen zu erheben und zu verarbeiten. Sie stellte im Oktober 2024, also ein Jahr nach dem Start der Militärkampagne, fest:

"Detailliertere Berichte des IDF [der israelischen Verteidigungsstreitkräfte] über die Tötung von Kämpfern, die Einzelheiten zu Zeiträumen, Orten oder Operationen enthalten, kommen auf etwa 8500 Getötete […] Diese Zahl beinhaltet auch Kämpfer anderer bewaffneter Gruppierungen sowie möglicherweise anderer, nicht an Kampfhandlungen beteiligter Hamas-Mitglieder."

Gaza: Bewohner von Krieg und Friedensversprechen erschöpft

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Britische und israelische Medien zitierten zudem eine geheime israelische Datenbank, die dies zu bestätigen schien. Den dort enthaltenen Daten zufolge waren bis zum Mai 2025 nur 8900 namentlich bekannte Kämpfer der Hamas oder ihres Verbündeten, des Islamischen Dschihads, getötet oder "vermutlich getötet" worden. Die Medien folgerten daraus, dass es sich bei über 80 Prozent der mehr als 65.000 Toten in Gaza um Zivilisten handelt.

Tausende neue Rekruten für die Hamas?

Die ACLED vermutet, dass die Hamas in den vergangenen zwei Jahren zusätzliche Kämpfer rekrutiert haben könnte. Beamte der US-Geheimdienste bezifferten Anfang des Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, die Zahl möglicher neuer Hamas-Kämpfer auf 10.000 bis 15.000.

"Es gibt Hinweise, auch in den sozialen Medien, dass eine wachsende Zahl junger Palästinenser sich ohne vorherige Ausbildung den Al-Qassam-Brigaden [dem militärischen Flügel der Hamas] anschließt und Guerillaaktionen durchführt", schrieb Leila Seurat vom Arab Center for Research and Policy Studies in Paris im August im Magazin "Foreign Affairs".

Fachleuten zufolge ist es im Interesse beider Seiten, die Stärke der Hamas zu überzeichnen. Der Terrorgruppe selbst gibt das die Möglichkeit, in Waffenstillstandsverhandlungen Macht zu demonstrieren. Israel dagegen gäbe die Darstellung der Hamas als ernstzunehmendem Gegner "einen Vorwand, den Gazastreifen zu zerstören und seine Einwohner zu vertreiben", erklärte Mohammed al-Astal, ein Analyst aus dem Süden Gazas, im vergangenen Monat in der "New York Times".

Auch wenn unklar ist, wie viele Hamas-Kämpfer getötet wurden, ist eines unbestreitbar: Die Führungsriege der Hamas wurde von Israel größtenteils ausgeschaltet. Von den hochrangigen Kommandeuren, die vor dem 7. Oktober dem Militärrat der Gruppe angehörten, ist nur noch einer übrig.

Die Hamas setzt verstärkt auf Guerillataktiken

Laut der ACLED hat die Hamas in den vergangenen zwei Jahren ihre Taktik geändert. Sie agiere jetzt eher als dezentrale Gruppe und setze vermehrt Guerillataktiken ein, greife mit Sprengstoff aus dem Hinterhalt an und ziehe sich sofort wieder zurück, anstatt sich Kämpfe mit israelischen Soldaten zu liefern.

Die Zahl der Raketenangriffe auf Israel durch die Hamas ist deutlich zurückgegangen. Israelischen Beamten zufolge wurde das Waffenarsenal der Gruppe, insbesondere an schweren Waffen wie Raketen, zerstört.

Während einer Waffenruhe im Februar übergab die Hamas mehrere Geiseln an das Rote KreuzBild: Mohammed Hajjar/AP/picture alliance

Trotzdem gelang es der Hamas, im September 2025 zwei Raketen abzuschießen und Angriffe auf israelische Soldaten durchzuführen. So setzen zum Beispiel im August 2025 in Khan Yunis Kämpfer schwere Waffen ein und versuchten, israelische Soldaten zu entführen.

In Gebieten, die der israelischen Armee zufolge "gesäubert" wurden, tauchen Beobachterinnen und Beobachtern zufolge immer wieder kleinere Hamas-Gruppierungen auf. Es ist davon auszugehen, dass Teile des Tunnelnetzwerks der Hamas, das Überraschungsangriffe möglich macht und in dem die israelischen Geiseln versteckt werden können, noch immer existieren.

Zudem gibt es Hinweise, dass die Hamas ihre Aktivitäten im besetzten Westjordanland verstärkt hat, obwohl dort andere militante Palästinensergruppen vorherrschen. Die vergangenen 15 Jahre hatte  sich die Hamas dort relativ ruhig verhalten. 

Was macht der zivile Arm der Hamas?

Es wird viel darüber spekuliert, wie viel Kontrolle die Hamas noch über den Gazastreifen hat. Der militärische Flügel der Hamas kämpft gegen die israelische Armee. Aber die Gruppe, die seit 2007 im Küstenstreifen die Macht ausübt, war bisher auch für die zivilen Einrichtungen in Gaza zuständig, von Krankenhäusern über die Polizeikräfte bis zur Müllabfuhr.

Dieser zivile Arm habe sich angepasst, sagen verschiedene Fachleute. Dazu gehöre, dass Polizeikräfte keine Uniform mehr trügen sowie ein inoffizielles System von Barzahlungen für Behördenangestellte. Doch auch das könnte sich ändern.

Denn so werden Behördenangestellte zwar vermutlich mit Bargeld bezahlt, das die Hamas für Notfälle angehäuft hatte, doch dieses geht möglicherweise zur Neige. Laut ACLED nimmt das israelische Militär zudem verstärkt "Einzelpersonen und Einrichtungen, die mit der Regierung der Hamas, den Kommunen und den Polizeikräften in Verbindung stehen" ins Visier, um die zivile Kontrolle der Gruppe über Gaza zu schwächen.

"Palästinenser berichten, dass Hamas-Vertreter seit Wiederaufnahme des Krieges immer seltener öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Dazu gehört auch die Polizeiarbeit, teilweise aufgrund des durch die israelischen Angriffe verursachten Chaos, aber auch aus Angst, dass Israel explizit Verwaltungsstrukturen angreift", schrieben Analysten der Denkfabrik International Crisis Group Anfang des Jahres.

Viele Bewohner des Gazastreifens mussten schon mehrfach fliehen und leben in Zeltstädten wie hier in Khan YunisBild: Jehad Alshrafi/AP Photo/picture alliance

Ihr Überleben hat für die Hamas Priorität

Ein ehemaliger Offizier der internen Sicherheitsdienste von Gaza berichtete dem britischen Sender BBC kürzlich, die Hamas habe in fast ganz Gaza die Kontrolle verloren. Das Sicherheitsvakuum würde von kriminellen Gangs und Clans ausgefüllt, die gesellschaftliche Ordnung sei vollständig zusammengebrochen.

Auch Rivalen setzen der Hamas offenbar zu. Jüngsten Berichten zufolge unterstützt Israel gezielt gegen die Hamas agierende Gruppen in Gaza. Eine darunter ist die Gruppe der sogenannten "Volkskräfte", deren Mitglieder mit Plünderungen und Drogenhandel in Verbindung gebracht werden. Ihr Anführer scheinen Versuche unternommen zu haben, ein gemeinsam mit anderen bewaffneten Gruppierungen gegen die Hamas vorzugehen.

Viele Fachleute sind sich einig, dass es nicht möglich sein wird, die Hamas vollständig zu beseitigen sondern die Gruppe lediglich zu schwächen. "Die Hamas hat ihr Überleben über eine direkte Konfrontation gestellt" schrieb die ACLED im September. Ihr eigenes Überleben stelle für die Hamas den eigentlichen Sieg dar. 

"Die Hamas ist so etwas wie eine Ideologie", erläutert Hans-Jakob Schindler, Experte am International Centre for Counter-Terrorism, im Gespräch mit der DW. "Eine Ideologie kann man nicht zerstören. Es gibt nur die Möglichkeit, ihre militärischen und terroristischen Fähigkeiten zu schwächen."

Adaption aus dem Englischen: Phoenix Hanzo.

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