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Auch untaugliche Männer müssen in der Ukraine zum Militär

19. Juli 2025

In der ukrainischen Armee finden sich auch Menschen mit psychischen und physischen Einschränkungen. Damit sind sie für den Militärdienst ungeeignet. Warum müssen sie dennoch dienen und wie verbreitet ist das Problem?

Ukrainische Soldaten sitzen während eines Trainings auf dem Boden
Ukrainische Soldaten bei einem TrainingBild: Kirsty Wigglesworth/AP Photo/picture alliance

Häufige Gedächtnislücken, Desorientierung, Verwechslung von Zahlen und Farben - das sind die Alltagsprobleme des 28-jährigen Wassyl aus der Zentralukraine. Seit 2015 ist er wegen einer Persönlichkeitsstörung in psychiatrischer Behandlung. Das hinderte die Streitkräfte der Ukraine jedoch nicht daran, den Mann zum Wehrdienst einzuziehen. 

Nach Angaben seiner Lebensgefährtin Olena bekennt sich Wassyl nie zu seinen Einschränkungen. Womöglich habe er sie bei der Musterung nicht erwähnt. Wassyl wurde für uneingeschränkt diensttauglich befunden und in den Süden des Landes zu einer Grundausbildung geschickt. 

Olena wollte Wassyls Kommandanten klarmachen, was für ein Fehler die Einberufung ihres Lebensgefährten sei. Zunächst habe der Offizier auch Verständnis gezeigt und die für eine Ausmusterung medizinischen Nachweise angefordert. Das Gutachten einer psychiatrischen Klinik aus dem Jahr 2015 wies der Kommandant aber als veraltet zurück. "Wie kann das kein Grund für eine Entlassung aus der Armee sein, wenn sein Zustand nicht veränderbar ist?", sagt Olena verzweifelt im Gespräch mit der DW.

"Eine Gefahr für sich selbst und andere"

Der DW liegt das Gutachten aus dem Jahr 2015 vor. Darin heißt es: "Wassyl verfügt über einen dürftigen Wortschatz, ein niedriges Abstraktionsvermögen, einen Intelligenzquotienten (IQ) von 66 (der Durchschnitt liegt bei 100) und begreift nicht einmal den Namen des Landes oder der Hauptstadt der Ukraine." Unter Stress verstärkten sich seine Symptome, sagt Olena.

Eine Psychiatrie, die Wasslys anonymisiertes Gutachten geprüft hat, diagnostiziert eine geistige Behinderung mit emotionaler und willentlicher Instabilität. "Unter Stress ist eine solche Person unberechenbar und für sich selbst wie auch für andere eine Gefahr", sagt eine Ärztin, die bei den ukrainischen Verteidigungskräften ist und daher anonym bleiben möchte.

Wie Wassyls Diagnose übersehen wurde

Die Information über alle Patienten aus staatlichen Krankenhäusern ist in einer Datenbank, die Helsi heißt, gespeichert. Darauf können auch die Militärärzte zugreifen. Doch Wassyls Diagnose war dort gar nicht vermerkt, sagt Rechtsanwalt Jewhen Zechmister. Denn Daten über psychische Erkrankungen dürften nur mit Einwilligung des Patienten gespeichert werden.

Wassyl wurde von der Armee eine Waffe ausgehändigtBild: privat

Gemäß der Anordnung Nr. 402 des Verteidigungsministeriums ist Wassyls Diagnose jedoch Grund genug, ihn nicht zum Militärdienst einzuziehen. Militärärzte würden nur offiziellen Papieren vertrauen, sagt Zechmister, weil viele Männer psychische Störungen vortäuschten, um sich dem Militärdienst zu entziehen. "Hätte man rechtzeitig Rechtsbeistand gesucht, um aktuellere Nachweise vorzulegen, wäre Wassyl nicht eingezogen worden."

Olha Reschetylowa ist die Beauftragte des Präsidenten für den Schutz der Rechte von Militärangehörigen und deren Familien. Sie rät, sich selbst um die Aktualisierung eigener Daten beim Militär und beim "Helsi"-System zu kümmern. Zumal sich der psychische Zustand von Rekruten in der Grundausbildung verschlechtern könne. Die Kommandeure wollten aber keine psychisch Kranken in ihren Einheiten, weshalb sie oft eine Behandlung ermöglichten, sagt Reschetylowa der DW.

Was meint der ukrainische Ombudsmann?

Seit Jahresbeginn seien mehr als 2000 Beschwerden über Verstöße gegen Menschenrechte bei der Mobilmachung eingegangen, berichtet der Ombudsmann des Parlaments, Dmytro Lubinez. Im Jahr 2024 seien es etwa 3500 gewesen. "Wir reagieren immer. Es gibt Fälle, wo meine Vertreter vor Ort selbst zum Einberufungsamt gehen und den Bürgern zu ihrem Recht verhelfen", sagt er der DW. "Durch unser Eingreifen konnten kranke Personen aus der Armee entlassen werden." Aber nicht alle Beschwerden seien gerechtfertigt.

Olha ReschetylowaBild: Andreas Stroh/picture alliance

Es sei vorgekommen, dass sogar Schwerkranke einberufen wurden, räumt Lubinez ein. Zahlen dazu gebe es jedoch keine. "So etwas passiert, wenn Mitarbeiter medizinische Unterlagen oder den tatsächlichen Zustand von Personen ignorieren", kritisiert der Menschenrechtsbeauftragte. Die Einberufenen sollten in der Armee sorgfältiger verteilt werden: "Nicht mit jeder gesundheitlichen Beeinträchtigung ist man automatisch untauglich. Mit Rückenproblemen kann man nicht zu den Sturmtruppen, aber gut am Computer arbeiten."

Was berichten ukrainische Militärs?

Ein ukrainischer Brigadeoffizier schildert der DW seine Erfahrungen in einem Ausbildungszentrum der Armee. "Ich erhielt das Privileg, mir die Leute auszusuchen. Aber da kamen welche ohne Zähne oder mit Tuberkulose", so der Offizier, der nicht genannt werden möchte. Die Männer seien bereits mehrfach den Brigaden angeboten worden, doch keiner habe sie nehmen wollen. Nicht einmal, um Schützengräben zu bauen.

Kyrylo (Name geändert) ist in diesem Frühjahr eingezogen worden. Er habe im Einberufungsamt auch Obdachlose mit geschwollenen Beinen, Drogenabhängige und Alkoholiker gesehen, kritisiert er. Die erste Musterung sei oft nur eine Formsache. Mancherorts finde sie gar nicht statt. Erst im Ausbildungszentrum sei dann gründlicher geprüft worden

Ausbildung von Rekruten in den Streitkräften der UkraineBild: DW

Der Soldat Oleksandr (Name geändert) hatte bei der Musterung sogar Epileptiker gesehen. Auf solche Missstände sei zurückzuführen, dass 2024 ein Rekrut mit Schizophrenie nach der Grundausbildung in eine Marinebrigade geriet, berichtet er. Zum Glück sei dies schnell aufgefallen. "Man gab ihm keine Waffe und schickte ihn nach einigen Tagen weg."

Begleiterkrankungen nicht berücksichtigt

Laut Rechtsanwalt Jewhen Zechmister ist die Einberufung untauglicher Männer weit verbreitet. "Ein Soldat, 1,75 Meter groß, 38 Kilogramm schwer, mit einer Sehschwäche, Entwicklungsstörung und einem falsch geformten Brustkorb kann in einer kugelsicheren Weste weder gehen noch atmen. Aber er ist seit 2022 in der Armee. Er wird ständig von einer Einheit zur anderen oder in Krankenhäuser verlegt und bekommt die Grundversorgung", sagt Zechmister. Da keine seiner einzelnen Diagnosen unter die Kategorie "untauglich" falle, könne er nicht ausgemustert werden.

Und die Kommandeure könnten solchen Rekruten weder reale Aufgaben geben noch sie entlassen. Besonders akut sei die Lage bei den Bodentruppen und Logistikkräften, die zu einem "Abstellgleis" für solche Personen geworden seien, sagt Zechmister. "Sie kommen in Brigaden, die Verteidigungslinien bauen sollen. Dort sind sie aber unbrauchbar."

Sanitätskräfte sehen keine Probleme

Das Kommando der Sanitätskräfte hat an den Musterungen nichts auszusetzen: "Das Urteil der Militärärzte basiert auf von Fachärzten erstellte Diagnosen. Ein Urteil aufgrund der Kombination mehrerer Krankheiten ist nicht vorgesehen", antwortet Oberst Jurij Podoljan, dem stellvertretenden Kommandeur der Sanitätskräfte, auf eine Anfrage der DW. Seiner Meinung nach entspricht die Anordnung Nr. 402 den Gesetzen sowie internationalen Standards.

Ganz anders sieht das Olha Reschetylowa, Beauftragte des Präsidenten für den Schutz der Rechte von Militärangehörigen. Diese Anordnung müsse überarbeitet werden, sagt sie. Das Verteidigungsministerium sei schon damit befasst.

Unterdessen neigt sich Wassyls Grundausbildung dem Ende zu, danach wird er einer Einheit zugeteilt. Nach Angaben seiner Lebensgefährtin Olena hat Wassyl Zugang zu Waffen. Rechtsanwalt Jewhen Zechmister versucht, für Wassyl eine zweite psychiatrische Untersuchung bei Militärärzten zu erreichen. "Wenn er an der Front landet, dann ist er eine Gefahr für die Einheit", warnt der Anwalt. "Man kann nicht vorhersehen, wann seine Psyche versagt. Und wer dann in sein Visier gerät."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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