1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie "ururalter" Reis Japans Politik erschüttert

Martin Fritz aus Tokio
16. Juni 2025

Mit dem Kampf gegen den hohen Reispreis will Japans Premierminister Shigeru Ishiba die Oberhauswahl im Juli gewinnen. Martin Fritz aus Tokio.

Japan | Reisanbau in Namie
(Archiv) Reisanbau in JapanBild: Kyodo/picture alliance

Seit über drei Jahren ertragen die Japaner erstaunlich gelassen, dass die Preise schneller steigen als die Löhne, obwohl sie über zwei Jahrzehnte keine Inflation kannten. Sie suchen nach Sonderangeboten, wechseln zu günstigeren Läden und Produkten, kaufen weniger. Doch die Verdopplung des Reispreises innerhalb eines Jahres überstrapaziert ihre Geduld. Pro Kalorie ist Reis nun teurer als Brot. Die ohnehin schwachen Zustimmungswerte von Premierminister Shigeru Ishiba sanken auf neue Tiefs. Schließlich ist Reis den Japanern heilig; für Reis und Essen nutzen sie dasselbe Wort: "gohan".

Kein Wunder, dass Premier Ishiba den Reispreis zur Chefsache machte. Reis muss billiger werden, erkannte er, sonst würde seine Liberaldemokratische Partei (LDP) die Oberhauswahl am 20. Juli verlieren und er selbst sein Amt riskieren. Ishiba führt eine Minderheitsregierung, seit die LDP bei der Parlamentswahl Ende Oktober 2024 erstmals seit 15 Jahren ihre absolute Mehrheit verlor. Also öffnete der Regierungschef im Februar die staatliche Reisreserve, die eigentlich der Notversorgung nach Katastrophen dient, erstmals in der Geschichte, um den Reispreis zu senken. Zudem importierte Japan mehr ausländischen Reis.

Premier Ishiba der Dauerregierungspartei LDP führt seit 2024 eine Minderheitsregierung anBild: picture alliance/Kyodo

Staatliche Auktionen ohne Preiswirkung

Drei staatliche Auktionen von über 300.000 Tonnen Reis an Großhändler im März und April beeinflussten den Preis für Endverbraucher jedoch nicht. Der durchschnittliche Preis eines 5-Kilogramm-Sacks Reis stieg bis Mitte Mai sogar auf umgerechnet 25 Euro. Für die bevorzugte Sorte Koshihikari mussten über 30 Euro bezahlt werden. Agrarminister Taku Eto trat zurück, nachdem er gewitzelt hatte, er habe noch nie in seinem Leben Reis selbst gekauft. Daraufhin ernannte Ishiba den beliebten Politiker Shinjiro Koizumi, Sohn des ehemaligen Premierministers Junichiro Koizumi, zum neuen Agrarminister.

Koizumi, der in der LDP einige Jahre für Agrarpolitik zuständig war, veranlasste den Verkauf von weiteren 300.000 Tonnen aus der Reserve, diesmal direkt an Einzelhändler. Lange Schlangen bildeten sich, als dieser Reis ab Ende Mai zum Dumping-Preis von 12 Euro je 5 Kilogramm in die Supermärkte kam. Die Kontingente von Online-Händlern waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Ob die Reispreise dadurch gesunken sind, ist bisher unklar. Für Juni liegen noch keine Daten vor. Experten erwarten einen Rückgang erst ab September, wenn der neue Reis auf den Markt kommt. Ungeachtet dessen stieg der Zustimmungswert für Ishiba laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo im Vergleich zu Mai um fünf Punkte auf 37 Prozent. Vor diesem Hintergrund kündigte der neue Agrarminister Koizumi vergangene Woche an, weitere 200.000 Tonnen direkt an Einzelhändler zu verkaufen. Dann wäre die staatliche Reisreserve um insgesamt 90 Prozent auf lediglich 100.000 Tonnen geschrumpft.

Idyllisches Reisfeld in der Nähe der Stadt ChibaBild: Ryohei Moriya/AP Photo/picture alliance

Opposition spricht von "Tierfutter"

Für die Opposition bot Koizumis Vorgehen eine willkommene Angriffsfläche. Yuichiro Tamaki, Chef der "Demokratischen Partei für das Volk", die Ishibas Regierung von außen unterstützt, kritisierte den Verkauf von "ururaltem" Reis. Der sei doch Tierfutter. Kazuhiro Haraguchi von der Konstitutionell-Demokratischen Partei legte nach: Dieser Reis werde überwiegend von Hühnern gefressen. Beide spielten darauf an, dass der vier Jahre alte Reis aus der Reserve, auf Japanisch "alter, alter, alter Reis" (kokokomai), im nächsten Jahr als Tierfutter verkauft werden müsste. Agrarminister Koizumi konterte die Kritik, indem er öffentlich ein Onigiri-Reisbällchen aß. Eine Umfrage des TV-Senders ANN ergab jedoch, dass fast zwei Drittel der Befragten den Altreis als trocken, zäh und muffig empfanden.

Die japanische Gemeinde in Frankfurt am Main

05:12

This browser does not support the video element.

Unklare Ursachen für Verknappung

So einig sich die Regierung über das Gegenmittel ist, so uneinig ist sie sich über die Ursachen der Preisexplosion. So warfen Beamte spekulativen Zwischenhändler vor, den Reis zu horten, um den Preis nach oben zu treiben. Koizumi kündigte an, die statistischen Daten für die Reisproduktion anders zu erheben. Laut der offiziellen Statistik wurde 2024 angeblich genug Reis geerntet, so dass es eigentlich keine Knappheit geben dürfte. Japanische Nutzer auf der Plattform X machten die rekordhohe Zahl an Touristen für die Krise verantwortlich. Sie würden den Japanern mit ihrem Heißhunger auf Sushi und Onigiri das Grundnahrungsmittel wegessen. Zeitungskommentatoren verwiesen auf die Hamsterkäufe im August des vergangenen Jahres, nachdem die Behörden die Bevölkerung aufgerufen hatten, genügend Notvorräte für ein großes Erdbeben anzulegen.

Jung, gut aussehend, Agrarminister! LDP-Nachwuchspolitiker KoizumiBild: Takashi Aoyama/AFP

Koizumi unterstützte in der Vergangenheit eine Reform der Reisanbaupolitik. Bis 2018 hielt der Staat den Reispreis zugunsten der Bauern künstlich hoch. Da die Japaner jährlich immer weniger Reis konsumierten, ermunterten finanzielle Anreize die Bauern dazu, Sojabohnen und Weizen statt Reis anzubauen. Infolgedessen werden nur 60 Prozent der Reisfelder tatsächlich genutzt. Vor der Wahl will die Regierung die heikle Reform aber nicht angehen. Die mächtige Bauernlobby protestierte bereits gegen die Direktverkäufe aus der Reserve. Hitoshi Tanaka, Funktionär einer Agrarkooperative in Nagano, erklärte, Reis sei gar nicht zu teuer. Eine Schüssel Reis sättige genauso wie ein Sandwich aus dem Supermarkt, sei aber viel billiger.

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen