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Literatur

Potenzmittel für Verlage

Sabine Peschel
9. Dezember 2019

Nicht nur die Autoren, auch die Verleger warten Jahr für Jahr gespannt auf die Bekanntgabe des Nobelpreises. Die Auszeichnung entscheidet über Auflagen und Gewinn - aber wie intensiv ist der Effekt?

Frankfurter Buchmesse 2013 - Bücher von Alice Munro beim S. Fischer Verlag
Bild: Getty Images/AFP/D. Roland

Selbstverständlich steigert der Nobelpreis die Auflagenzahlen, so würde man die Titelfrage wohl ohne weiteres Nachdenken beantworten, und man läge damit richtig. "Es gibt keinen äußeren Impuls, der sich so stark auf einen Autor und die Bücher eines Autors auswirkt, wie der Nobelpreis. Das ist das Intensivste, was einem Autor, einem Werk passieren kann", sagt Lucien Leitess, Verlagsleiter und Programmchef des Schweizer Unionsverlags. Sein Haus hat vier Nobelpreisträger im Programm - und mit der 1937 im karibischen Guadeloupe geborenen Maryse Condé auch eine Autorin, die mit dem - weniger Auflagen steigernden - sogenannten Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Großer Einfluss des Medienechos

Dass dabei die Auswirkungen äußerst unterschiedlich ausfallen können, hat der Verleger im eigenen Haus erlebt. Der Unionsverlag steht für internationale Literatur, im Programm finden sich Autoren aus aller Welt. Was geschah, als der Ägypter Nagib Machfus 1988 überraschend ausgezeichnet wurde, erzählt der Verleger anekdotisch: "Niemand kannte ihn, man wusste nicht, wie man ihn richtig schreibt. Wir haben in drei Jahren 300 Exemplare verkauft - und dann in drei Minuten 30.000." In der Folge käme es natürlich sehr darauf an, wie ein Autor oder eine Autorin bei den Lesern angenommen wird. "Der Nobelpreiseffekt ist ja gewissermaßen nur ein Start, aber ob daraus ein Langstreckenlauf wird, der über viele Jahre anhält, das hängt davon ab, wie sehr ein Autor oder eine Autorin die Herzen der Leser erobert."

Doch auch die Kulturjournalisten spielen für die Rezeption eine große Rolle, wie sich am Beispiel Mo Yans zeigte. Viele Rezensenten kritisierten 2012 die Nobelpreisvergabe an den chinesischen Autor, nicht immer nur mit Argumenten, die auf seine literarische Qualität zielten. "Wir hatten mehrere Bücher von ihm als Taschenbücher am Lager. Zusammengenommen sind dann vielleicht etwa 80.000 verkauft worden", so Leitess. Also keine sehr hohe Anzahl für die Bücher eines Nobelpreisträgers. "Die neuen Werke haben dann Suhrkamp und Hanser gemacht."

Hier, im Suhrkamp Verlag, sind die Bücher von Peter Handke zuhauseBild: Getty Images/AFP/M. Tantussi

Erfolgszahlen mit Handke und Tokarczuk

Suhrkamp ist in Deutschland der Verlag mit den meisten Nobelpreisträgern, und er ist auch derjenige, der sich aktuell am meisten freuen durfte. Peter Handke ist der sechzehnte Nobel-Gekürte, den der Verlag im Programm hat - und das schon seit 50 Jahren. In den sieben Wochen nach der Bekanntgabe des Nobelpreises hat Suhrkamp 150.000 Exemplare von Handkes Büchern verkauft, verrät Pressechefin Tanja Postpischil. "'Die Obstdiebin' liegt bei starken 75.000, und so ganz insgesamt haben inzwischen 5 Millionen Handke-Bücher ihre Leser gefunden."

Mit dem Nobelpreis im Rücken lassen sich auch ältere Titel gut verkaufen. Das erlebt gerade auch der junge Zürcher Kampa-Verlag. Er ist der fünfte Verlag, in dem die Bücher Olga Tokarczuks erscheinen. "Es war immer klar, dass sie eine sehr wichtige und tolle Autorin ist, aber sie war auch immer schwer verkäuflich im deutschsprachigen Raum", erzählt Verleger Daniel Kampa, der, von Diogenes kommend, seinen Verlag erst im Herbst 2018 gegründet und die Rechte an Tokarczuks früher erschienenen deutschen Büchern erworben hat. Ihr Opus magnum, "Die Jakobsbücher", erschien auf Deutsch zehn Tage vor der Bekanntgabe der Nobelpreisentscheidung für die polnische Autorin, am 1. Oktober.

Glücksfall für einen jungen Verlag

Hatte sich der Verlag vorbereitet, vielleicht hellhörig geworden durch den Man Booker International Prize 2018 für Tokarczuk und ihren wiederkehrenden Namen auf den Wettlisten für den Nobelpreis? "Nein", entgegnet Daniel Kampa, "es stehen immer irgendwelche Namen auf irgendwelchen Listen, und es gibt genügend Autoren wie Philip Roth, die ihn doch nie kriegen. Man darf das nicht erhoffen, so etwas passiert nicht." Als es dann doch passiert ist, bedeutete es erst einmal sehr viel Arbeit für alle Mitarbeiter. "Gesang der Fledermäuse", die Neuauflage eines ursprünglich bei Schöffling verlegten Titels, wurde um ein halbes Jahr vorgezogen, ein neues Kinderbuch herausgegeben, zwei bereits im Programm vorhandene Bücher wurden nachgedruckt.

Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk auf der Frankfurter BuchmesseBild: Reuters/R. Orlowski

"Dass die Jakobsbücher zwei Wochen vor dem Nobelpreis bei uns herausgekommen waren, ist einer von einer ganzen Geschichte von Glücksfällen", erzählt Kampa. "Dazu gehört auch, dass wir vor einem Jahr den Vertrag über ihr Gesamtwerk unterschrieben haben, dass wir während der Bekanntgabe gerade eine Lesetour durch Deutschland geplant hatten und dass die Buchmesse anstand." Glück war auch, berichtet er weiter, dass der Verlag noch fertig gedruckte, aber noch nicht gebundene Bögen des Buchs auf Lager hatte. "So einen dicken 1200-Seiten-Roman, noch dazu auf dünnem Papier zu drucken, das man oft speziell bestellen muss, das dauert lange."  Vor der Verkündung hatte Kampa zirka 1200 Exemplare verkauft. Danach waren die 3000 bereits gebundenen Exemplare im Nu ausverkauft. Inzwischen hat der Verlag die älteren Bücher Tokarczuks mit einer Auflage von je 15.000 nachgedruckt.

Weniger Effekt bei unbekannteren Autoren

Wie stark sich der Nobelpreis auf einen Verlag auswirkt, hängt auch von der Bekanntheit des ausgezeichneten Autors oder der Autorin ab. Der Hanser-Verlag konnte sich im vergangenen Jahrzehnt über den Nobelpreis für den schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer (2011) und drei Jahre später gleich noch einmal über den für Patrick Modiano freuen. "Tranströmer war eine große Überraschung", weiß Jasmin Aldinger von der Hanser-Presse, die selber 2011 noch nicht beim Verlag war. "Ich glaube aber nicht, dass wahnsinnig viele Bücher von ihm verkauft wurden. Es gibt da immer einen Unterschied zwischen Dichtern und Romanautoren. Bei Modiano kann man insofern nur eingeschränkt von einem Nobelpreiseffekt sprechen, weil er so wahnsinnig viel geschrieben hat."

Verleger Jo Lendle konkretisiert mit Zahlen: "Das können mal 30.000 Exemplare einer Gedichtsammlung sein oder 300.000 Exemplare eines Romans. Bei großen Werken verteilt es sich auf die einzelnen Bücher und Ausgaben, wenn gerade aktuell eine Neuerscheinung vorliegt, stürzen sich alle neugierig darauf."

Der Fischer Verlag auf der Frankfurter BuchmesseBild: Getty Images/AFP/J. Macdougall

Der Nobelpreis als Durchbruch-Faktor

Die letzte Nobelpreisträgerin im Fischer-Verlag ist die kanadische Erzählerin Alice Munro. Chef-Lektor Hans Jürgen Balmes konnte bei ihr, 2003 aber auch schon bei dem Südafrikaner John Maxwell Coetzee den Nobelpreis-Effekt besonders deutlich beobachten. "Bei beiden war es wirklich groß, weil wir ja die gesamte Backlist im Druck hatten", erzählt der Herausgeber. "Bei Coetzee haben wir in den Monaten nach der Bekanntgabe 300.000 Bücher verkauft. Bei Alice Munro waren es vielleicht noch ein bisschen mehr."

Fischer hatte sich 2013, als Munro den Nobelpreis erhielt, tatsächlich gewappnet. "Es war so, dass wir eigentlich im Frühjahr ein neues Buch von ihr publizieren wollten", berichtet Balmes. "Aber wir hatten alles so vorbereitet, dass wir, falls das Wunder tatsächlich geschieht, den Titel für Dezember vorziehen konnten. Und so haben wir, wenn ich mich recht erinnere, noch im Dezember 120.000 Hardcover verkauft."

Nicht immer mit Langzeiteffekt

Man müsse aber auch sagen, meint Balmes, dass für Nobelpreisträger nicht das gelte, was immer vom Pulitzer-Preis behauptet werde: dass man danach nämlich schreiben könne, was man wolle, und es würde immer gekauft. "Bei Munro hat das Hoch zwei, drei Jahre angehalten. Danach haben sich die Zahlen wieder normalisiert. Und die Zahlen, die wir mit dem neuen Roman von Kenzaburo Oe, dem japanischen Nobelpreisträger von 1993, erreichen, sind minimal, ein Bruchteil von dem, was einmal war."

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