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GesellschaftDeutschland

Deutsche Einheit: Der Osten hinkt hinterher

2. Oktober 2020

Von gleichen Lebensverhältnissen kann auch 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik keine Rede sein. Das West-Ost-Gefälle verfestigt sich - nicht nur ökonomisch.

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3. Oktober 1990: Tausende Menschen feiern vor dem Berliner Reichstagsgebäude die Deutsche EinheitBild: Jörg Schmitt/dpa/picture-alliance

Mit 30 ist man in Deutschland vergleichsweise jung. Das Durchschnittsalter liegt nämlich bei knapp 45. Mit 30 bekommen Mütter statistisch gesehen ihr erstes Kind, egal wo in Deutschland. In diesem Punkt gibt es keine Unterschiede mehr zwischen West und Ost. Vor der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 war das anders. Mütter in der alten Bundesrepublik waren im Durchschnitt 27 Jahre alt, die in der DDR 24. Bei der Familienplanung haben sich die Lebensverhältnisse also angeglichen.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wanderwitz, hat anscheinend Recht, wenn er sagt: "Deutschland ist sich seit 1990 in vielen Dingen sehr ähnlich geworden." Als weitere Beispiele nennt er die Freizeitgestaltung und das Vereinsleben. In welche Statistiken man auch immer hineinschaue, "man findet mehr Gemeinsames als Trennendes". Wirklich? Der von ihm Mitte September präsentierte Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit lässt auch andere Schlussfolgerungen zu.

Vor allem bei den harten Faktoren sieht das Bild weniger rosig aus: Die Wirtschaftskraft der fünf östlichen Bundesländer liegt bei lediglich 73 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnitts. Und auch die Einkommen sind mit knapp 89 Prozent noch weit unter West-Niveau. Der Bundesbeauftragte für den Osten Deutschlands räumt dieses Defizit auch offen ein, hofft aber auf eine Trendwende: durch die Ansiedlung von Zukunftstechnologien nach dem Vorbild des Elektro-Autobauers Tesla in der Nähe von Berlin. Konkret denkt er an Investitionen in den Bereichen Mobilität, Wasserstoff und Künstliche Intelligenz (KI).

Von der Volkskammer in den Bundestag

In diesem Punkt ist sich der christdemokratische Parteifreund von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einig mit Dagmar Enkelmann, die politisch ansonsten ganz anders tickt. Auch die Vorsitzende der den Linken nahe stehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung betont die ökonomischen Unterschiede. Die bedeuteten "natürlich auch für die Zukunft eine andere Entwicklung im Osten", sagt sie im DW-Interview. Man sei heute gefordert, sich Gedanken zu machen, "wie man in der Regionalentwicklung und Wirtschaftsstrukturpolitik gegensteuern kann".

Dagmar Enkelmann: "Die Welt ist bunter geworden"

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Persönlich hat die ehemalige DDR-Volkskammer- und Bundestagsabgeordnete der Linken nach anfänglichen Zweifeln ihren Frieden mit der Deutschen Einheit gemacht: "Die Welt ist bunter und die Luft ist sauberer geworden", freut sich Dagmar Enkelmann. Und sie habe sich eine eigene Weltanschauung bilden können. Den Westen kannten DDR-Bürger ja fast nur aus dem Fernsehen. Seit 1990 können auch sie die ganze Welt bereisen. "Ich habe seit dieser Zeit vieles gesehen." 

Der Traum vom "Glücksgefühl der Wiedervereinigung"

Trotz aller Kritik an den weiterhin bestehenden Unterschieden fällt ihr Fazit positiv aus: "Das war ein Weg, der richtig war für die meisten Menschen in Deutschland." Und beim Anblick der Bilder vom 3. Oktober 1990 bekommt Enkelmann immer noch "Gänsehaut". Die Euphorie sei "irgendwie doch noch da". 

Der Ost-Beauftragte Wanderwitz hofft sogar, das "Glücksgefühl der Wiedervereinigung" wiederbeleben zu können. Da sei die Bevölkerung gefragt, aber auch die Politik. Sorgen macht sich der ebenfalls aus der DDR stammende Politiker jedoch über die im Osten geringere Wertschätzung der Demokratie. Nur 78 Prozent sehen in ihr die beste Gesellschaftsform für Deutschland, im Westen sind es 91 Prozent.

Ohne Zuwanderung wird es der Osten weiter schwer haben

Marco Wanderwitz verweist auf höhere Wahlergebnisse rechter Parteien und relativ mehr rechtsextremistische Straftaten. Das sei eine "Baustelle", die ihm persönlich sehr am Herzen liege, "aber die auch insgesamt Politik und Gesellschaft sehr am Herzen liegen muss". Nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Wenn man Wirtschaftskraft und Dienstleistungen im Osten halten wolle, "wird man das nur mit Zuwanderung schaffen", sagt Marco Wanderwitz.

Noch immer gehen viele junge Menschen in den Westen, weil dort fast alle großen Unternehmen der Auto- und Chemie-Industrie sind - und damit auch mehr und besser bezahlte Arbeitsplätze. Trotzdem hofft der Ost-Beauftragte auf eine innerdeutsche Wanderung zugunsten der sogenannten neuen Länder, die seit immerhin schon 30 Jahren zur größer gewordenen Bundesrepublik gehören.

Der Ost-Beauftragte setzt auf "Weltoffenheit und Willkommenskultur"

Weil das aber Wunschdenken bleiben könnte, denkt Marco Wanderwitz verstärkt an neue Arbeitskräfte aus anderen Ländern, wegen der kulturellen Nähe vor allem aus Europa. So könnte er sich vorstellen, dass Polen, die wegen des Brexits nicht in Großbritannien bleiben können, verstärkt in den Osten Deutschlands kommen. "Aber man muss natürlich in die ganze Welt schauen! Das setzt natürlich auch Weltoffenheit und Willkommenskultur voraus."

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Damit aber haben die Deutschen im Osten offenkundig größere Probleme als im Westen. Ablesbar ist das an den Wahlerfolgen der rechtspopulistischen und nach Einschätzung des Verfassungsschutzes teilweise rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD). In allen fünf ostdeutschen Bundesländern ist sie mit Wahlergebnissen von teilweise weit über 20 Prozent in die Parlamente eingezogen. "Der Osten wählt definitiv anders als der Westen", sagt der Historiker Frank Bösch vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Allerdings meint er das generell, nicht nur mit Blick auf die AfD.

Die AfD ist auch ein West-Phänomen

"Das betrifft zunächst auch die Linke, die im Osten lange eine Volkspartei war und vielfältig auch noch ist", betont Bösch gegenüber der DW. Er verweist auch auf die ganz anderen Stimmgewichte der "klassischen Parteien": Christdemokraten (CDU), Sozialdemokraten (SPD), Freie Demokraten (FDP) und Grüne, die es überwiegend schwerer haben als im Westen. Die AfD sei allerdings "kein reines Ost-Phänomen".

Ein Blick auf die politische Landkarte Deutschlands zeigt: Die AfD ist inzwischen überall; im Bundestag ist sie seit 2017 die größte Oppositionsfraktion. Dass ihr Erfolg mehr zu sein scheint als eine Frage von fehlender Wirtschaftskraft und Weltoffenheit, dafür sprechen die zweistelligen Wahl-Ergebnisse im "wohlhabenden Süden", wie es der Historiker Frank Bösch ausdrückt. In Bayern erhielt die auf Abschottung und weniger Zuwanderung setzende Partei bei der letzten Landtagswahl über zehn, in Baden-Württemberg sogar über 15 Prozent.

Die AfD ist im Osten stärker, polarisiert aber in ganz Deutschland erfolgreich mit Slogans gegen Zuwanderung (Archivbild)Bild: Imago/Ralph Peters

Das Gebiet der alten Bundesrepublik ist internationaler

In den beiden wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern der Bundesrepublik liegt der Ausländer-Anteil über dem deutschen Durchschnitt von gut zwölf Prozent. Damit den Erfolg der Rechtspopulisten zu erklären, wäre wohl zu einfach. Denn dann müsste die AfD im Osten bei einem durchschnittlichen Ausländer-Anteil gerade mal von fünf Prozent ein Nischendasein führen. Dass die Bevölkerungsstruktur im Westen auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bunter und internationaler ist, liegt vor allem an der dort schon um 1960 begonnenen Zuwanderung.

Abgesehen von der im Osten Deutschlands gelegenen Hauptstadt Berlin und attraktiven Universitätsstandorten wie Leipzig, Dresden oder Potsdam wird die Anziehungskraft des Westens noch lange stärker bleiben. Das weiß auch und gerade der Ost-Beauftragte der Bundesregierung. Als Marco Wanderwitz vor kurzem den aktuellen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit erläuterte, erzählte er eine Anekdote von seinem Klassen-Treffen, 25 Jahre nach dem Abitur: Die Zahl derer, die in ihrer sächsischen Heimat geblieben seien, habe man an einer Hand abzählen können. "Der Rest ist irgendwo in der alten Bundesrepublik, in der Schweiz, in Österreich."

"Jetzt gehen nicht mehr ganze Abi-Jahrgänge"

Marco Wanderwitz: "Der Rest ist irgendwo..."Bild: picture-alliance/TSP/S. Weger

Der Abwanderungstrend schwächt sich inzwischen ab, hat der Ost-Beauftragte in seiner alten Heimat beobachtet: "Jetzt gehen nicht mehr ganze Abi-Jahrgänge, sondern da geht kaum noch jemand." Und wenn, gehe es mal weg zum Studieren "und idealerweise kommt man hinterher wieder", sagt Wanderwitz. Beim letzten Satz klingt hörbar die Hoffnung mit, dass sich die Lebensverhältnisse in Deutschland weiter angleichen. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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