Wieso Äthiopien eine Drohkulisse gegenüber Eritrea aufbaut
1. November 2025
Äthiopien und Eritrea haben schon so ziemlich alles zusammen durchgemacht: Nach dem Ende der Kolonialzeit wurde Eritrea in das Äthiopische Kaiserreich eingegliedert. Ein Unabhängigkeitskrieg endete 1993 mit der Abspaltung der vorherigen Provinz. Seitdem folgten zwei weitere Kriege, in denen das große Binnenland und sein kleiner Nachbar am Roten Meer einander erst als Gegner, später als Waffenbrüder begegneten. Nun ist das Verhältnis wieder so angespannt, dass viele Bewohner der Grenzregion in ständiger Sorge vor einem neuen Krieg leben.
"Das Konfliktrisiko zwischen beiden Ländern bleibt recht hoch", sagte Michael Woldemariam, Politikwissenschaftler an der School of Public Policy der US-Universität Maryland, zur DW. "Die Spannungen und Feindseligkeiten zwischen beiden Regierungen sind in den letzten Monaten und Wochen sehr viel deutlicher geworden. Dafür haben wir viele Anhaltspunkte gesammelt."
Was sind die Ursachen für die aktuellen Spannungen?
Eigentlich standen beide Länder, wie bereits erwähnt, noch kürzlich auf derselben Seite. Bis vor drei Jahren bekämpften sie in Äthiopiens Nordprovinz Tigray die lokale Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). In dem äußerst brutal geführten Krieg kamen je nach Quelle zwischen 162.000 und 600.000 Menschen ums Leben.
Die TPLF ist auch der gemeinsame Nenner in der früheren Feindschaft beider Länder: Obwohl ihre Volksgruppe nur rund sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung stellte, beherrschte die TPLF über Jahrzehnte die Innenpolitik und setzte ein hartes Vorgehen gegen Eritrea durch. Die TPLF-Dominanz endete 2018 mit der Wahl von Abiy Ahmed zum Ministerpräsidenten, dessen Eltern den beiden größten Volksgruppen Oromo und Amharen entstammen. Abiy Ahmed söhnte Äthiopien mit Eritrea aus, unter anderem dafür erhielt er 2019 den Friedensnobelpreis.
Und dennoch ging das verbesserte Verhältnis seit dem Ende des Tigray-Kriegs in die Brüche. Streitgegenstand sind Abiys zunehmend vehement vorgetragene Forderungen nach einem Seehafen für das mit 120 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Binnenland der Welt. Äthiopien nutzt für den Im- und Export vor allem die Häfen im kleinen Nachbarland Dschibuti - und zahlt dafür Experten zufolge jährlich zwischen 1,5 und 2 Milliarden US-Dollar. Diese Kosten hemmten das Wirtschaftswachstum, argumentiert Abiy.
Eritrea befürchtet, Abiy könnte mit Gewalt nach dem Hafen von Assab greifen, der nur 75 Kilometer jenseits der Grenze liegt. Mitte Oktober besuchten hochrangige äthiopische Beamte, Geheimdienst- und Militärvertreter die Stadt Bure, Grenzort an der Fernstraße nach Assab und Schauplatz heftiger Kämpfe im Krieg zwischen 1998 und 2000. Dieses Treffen nährte die Sorge nach weiterer Eskalation.
Am Tigray-Friedensabkommen von Pretoria 2022 war Eritrea nicht beteiligt. Und die TPLF zerstritt sich über die in Pretoria an Abiy gegebenen Zugeständnisse, was schließlich zu einer Spaltung der TPLF führte. Eine abtrünnige Fraktion ging auf Distanz zu Ministerpräsident Abiy - und wird Berichten zufolge von Eritrea unterstützt. Seit dem Frühjahr werden immer wieder Scharmützel und Truppenbewegungen aus Nordäthiopien gemeldet. Als Äthiopien kürzlich Eritrea der Unterstützung lokaler Milizen bezichtigte, wies Asmara dies als "falsche Scharade" zurück.
Äthiopiens Armee in internen Konflikten gefordert
Äthiopiens Armee kämpft derzeit in mehreren Landesteilen gegen Aufständische. Abdurahman Sayed, ein in Großbritannien ansässiger Experte für das Horn von Afrika, sieht Äthiopien deshalb derzeit kaum militärisch in der Lage, den Hafen von Assab einzunehmen: "Der Kampf in der Region Amhara hat sich als sehr herausfordernd für die äthiopischen Streitkräfte erwiesen. Unter diesen Umständen wäre ein Krieg gegen Eritrea wohl nicht besonders weise", sagte Sayed im Gespräch mit der DW.
Dieses Argument führt auch Bayisa Wak-Woya an, ein früherer UN-Diplomat äthiopischer Herkunft. "Theoretisch kann alles passieren, aber ich glaube nicht, dass es über dem derzeitigen verbalen Krieg hinaus zu einem vollumfänglichen Krieg kommt", sagte Wak-Woya im Gespräch mit der DW.
In einer Regierungserklärung vor dem äthiopischen Parlament bekräftigte Abiy Ende Oktober Äthiopiens "unumkehrbare Forderung" nach einem eigenen Seezugang: "Ich bin mir zu Hundert Prozent sicher, dass Äthiopien kein Binnenstaat bleiben wird."
Die Aussagen fallen in eine Zeit, in der das internationale Völkerrecht stark unter Druck ist, etwa durch Russlands Invasion in der Ukraine, US-Präsident Donald Trumps Ansprüche auf Grönland oder aktuell durch das militärische Vorgehen der USA in der Karibik gegen Drogenschmuggler, was viele Beobachter als Drohkulisse gegen Venezuela werten. "Was Russland und Amerika tun, ist illegal", unterstrich Wak-Woya. "Und wenn Äthiopien sich gegen Eritrea so verhält, um Zugang zu Assab zu erlangen, wäre das illegal."
Abiy Ahmed bittet um Schlichtung - aber wer will sich einmischen?
In seiner Parlamentsansprache betonte Abiy jedoch auch: "Wir haben nicht die Absicht, gegen Eritrea in den Krieg zu ziehen. Im Gegenteil sind wir davon überzeugt, dass sich dieses Problem friedlich lösen lässt." Darüber habe er bereits mit den USA, Russland, China, der Afrikanischen Union sowie der Europäischen Union gesprochen.
Eigentlich wäre die Afrikanische Union der richtige Ort für Konfliktlösung, meinte Sicherheitsexperte Sayed. Aber: "Die Afrikanische Union hatte immer schon ein chronisches Problem dabei, mit Konflikten innerhalb Afrikas umzugehen. Zum Beispiel, als Äthiopien 2024 eine Absichtserklärung mit Somaliland unterzeichnete. Somaliland ist eine abtrünnige Region in Somalia, damit hat Äthiopien also eindeutig die Charta der AU verletzt, die die aus der Kolonialzeit geerbten Grenzen respektiert."
Michael Woldemariam glaubt, dass die USA beide Seiten mit Druck zu Zugeständnissen bewegen könnten, weil sowohl Äthiopien als auch Eritrea an einem besseren Verhältnis zu Washington interessiert seien. "Andererseits ist es für die Länder am Horn wirklich schwierig, die Interessen der USA zu lesen. Ich denke, die Trump-Administration wird zum jetzigen Zeitpunkt als unvorhersehbarer Akteur wahrgenommen und nicht wirklich als zuverlässig."
Eritreas Staatschef Isaias Afewerki hat unterdessen bereits die Unterstützung seines Verbündeten Ägypten gesucht: Er ist zu einem fünftägigen Arbeitsbesuch nach Kairo gereist. Ägypten liegt wegen des nilaufwärts gelegenen GERD-Staudamms ohnehin mit Äthiopien über Kreuz.
Aus Sayeds Sicht hat Kairo starke eigene Interessen an einer Konfliktbeilegung: "Das Rote Meer ist für Ägypten ähnlich wichtig wie der Nil, denn wenn es Probleme in dessen Süden gäbe, wäre ihr Einkommen durch den Suezkanal gefährdet." Als jemenitische Huthi-Rebellen vor rund zwei Jahren Frachtschiffe in der Region beschossen, waren die Einnahmen zeitweise um 40 Prozent gesunken.
Welche Rolle spielen die Wahlen in Äthiopien?
Unter Beobachtern gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, inwiefern die Eskalation zwischen Äthiopien und Eritrea auch von den für 2026 geplanten Wahlen in Äthiopien getrieben ist. Bayisa Wak-Woya glaubt, dass Premier Abiy Ahmed mit einer Wiederwahl rechnen kann - und mit einem neuen Mandat viel Zeit für die Hafen-Frage gewinnen kann: "Das Assab-Thema wird nicht aus der politischen Arena verschwinden, weil viele Menschen in Äthiopien sich immer noch nicht mit dem Fakt abfinden können, dass Eritrea kein Teil Äthiopiens mehr ist."