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Wieso ist im reichen Russland das Volk so arm?

4. September 2002

– Abgeordnete der Staatsduma antworten auf die Frage der "Literaturnaja gaseta"

Moskau, 4.-10.9.02, LITERATURNAJA GASETA, russ., Wassilij Treskow

Viele Russen leben von der Hand in den Mund, viele bekommen ihre Gehälter überhaupt nicht ausgezahlt. Wieso gibt es in einem so reichen Land so viele arme Menschen? Diese Frage stellte unser Korrespondent Abgeordneten der Staatsduma der Russischen Föderation.

Die kommende Generation wird besser leben

Sergej Iwanenko, stellvertretender Vorsitzender der "Jabloko"-Fraktion:

Der wichtigste Grund, weswegen das an Natur-, Industrie- und menschlichen Ressourcen reiche Russland arm ist und nicht zu den ersten unter den wohlhabenden Ländern der Welt gehört, liegt an der Art der gesellschaftlichen Beziehungen und an der Psychologie, die in unserer Gesellschaft über 80 Jahre lang geherrscht haben.

Wirtschaftswissenschaftler sagen, dass geringe Löhne ein jedes Land ruinieren können. Das niedrige Gehaltsniveau lässt sich jedoch in erster Linie damit erklären, dass die Beamtendiktatur die Wirtschaft regiert. Wirtschaftliche Aktivität wird nicht ausreichend gefördert, die Eigentumsrechte sind nicht geschützt, es mangelt an Wettbewerb. Sollten im Land die Eigentumsrechte durch ein sicheres Gesetz geschützt werden, sollten Mechanismen für den Schutz des Eigentums und des Kapitals der Bürger geschaffen werden, wird sich auch die passive, vom Materiellen abhängige Psychologie ändern.

Russland kann zu den führenden Staaten der Welt gehören. Die Möglichkeit dafür gibt es. Heute versuchen die Abgeordneten unserer Fraktion, die Voraussetzungen für eine neue Gesellschaft zu schaffen, indem sie am Gesetz über die Entwicklung des kleinen Unternehmertums arbeiten. (...)

Russland ist ein Teil der europäischen Zivilisation. Unsere russische Kultur hatte ihren Höhepunkt eben dann erreicht, als sie in die europäische Zivilisation integriert war. Und heute besteht die Hoffnung, dass sich das Land ungeachtet großer Schwierigkeiten eben in diese Richtung bewegen wird. Ich hoffe auf eine bessere Zukunft unserer Kinder. Die leben freier als ihre Eltern, unabhängiger.

Ein Wohlhabender lebt in Russland nicht ungefährlich

Sergej Sagidullin, stellvertretender Vorsitzender des Dumaausschusses für internationale Angelegenheiten, Gruppe "Volksabgeordneter":

Aus dienstlicher Verpflichtung beschäftigte ich mich mit Problemen der Sicherheit der Gesellschaft. Ich habe mich mehrmals überzeugt, dass der Mensch in unserem Land schlecht geschützt ist. Die Gesetze sind bei weitem nicht vollkommen. Wohlhabende Personen fühlen sich in Russland nicht wohl. Ein erfolgreicher Unternehmer, der mal klein angefangen hat, kann zum Opfer von Erpressern und Räubern werden. (...)

Der größte Teil der Bevölkerung lebt am Rande des Marktes. Die Tür zur Marktwirtschaft bleibt für sie verschlossen. Im Fernsehen hören sie vom Aktienkurs, wissen jedoch nicht, was man damit anfängt. Die Begriffe "Hypothek", "Leasing", "Wertpapiere" bleiben für viele ein Rätsel. Auf dem Land leben die Leute wie früher – es reicht fürs Brot, na Gott sei Dank. Sie trösten sich damit, dass es sicherer ist, arm zu sein. Dabei berufen sie sich auf das Fernsehen, das regelmäßig über Morde an Unternehmern berichtet.

Vor den Gesetzgebern steht die Aufgabe, eine neue Gesellschaft mit neuen Gesetzen zu schaffen, die einen Menschen, der ein gutes und wohlhabendes Leben führt, fördern. Eine der vorrangigsten Aufgaben der ganzen Sozialenpolitik des Staates ist weiterhin die Erhöhung des Lebensniveaus der Bevölkerung, von der ein großer Teil unter dem Existenzminimum lebt.

Außerhalb des gesunden Menschenverstandes

Nikolaj Brusnikin, stellvertretender Vorsitzender des Dumaausschusses für Kreditorganisationen und Finanzmärkte, Fraktion "Verband rechter Kräfte":

Es ist tatsächlich ein Paradoxon, dass der Lebensstandard der Bevölkerung in einem Land mit einem so reichen Natur-, Industrie- und intellektuellen Potential so niedrig ist. Der größte Teil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Auf dem Land kommt es so weit, dass die Leute bei den Nachbarn Löffel und Töpfe stehlen. Das alles passt nicht mehr in den Rahmen des gesunden Menschenverstandes.

Der Ausweg besteht darin, bei den Menschen das Gefühl des Eigentümers zu wecken. Dafür muss ein Mechanismus der Teilnahme der breiten Massen am Wertpapiermarkt erarbeitet werden. Durch Gesetze müssen die Reihen der Aktionäre durch sozial nicht geschützte Rentner, Studenten, Hausfrauen erweitert werden. In Russland muss ein aktives Geschäftsklima geschaffen werden, Optimismus und Unternehmergeist muss den Leuten eingeflößt werden. Das muss zur Staatspolitik werden. Es ist an der Zeit, die Haushaltsdisziplin zu festigen. (...) Die Gesellschaft ist berechtigt zu wissen, wie und in welchem Umfang Gelder für soziale Bedürfnisse ausgegeben werden, wie der Staat diese verwaltet.

Das Agrarland den Richtigen

Wiktor Semjonow, stellvertretender Vorsitzender des Dumaausschusses für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum:

Die Bevölkerung auf dem Land – die Ärmsten in unserem Land – hat heute die Chance, ihre materielle Lage zu verbessern und ihr Lebensniveau zu erhöhen. Diese Möglichkeit gibt ihr das Gesetz "Über den An- und Verkauf von Agrarland", das kürzlich vom Präsidenten des Landes unterzeichnet wurde. Eigentümer des Agrarlandes sind derzeit 12 Millionen Bürger Russlands, die vorher in den Kolchosen und Sowchosen tätig waren. Leider arbeitet nur ein Drittel von ihnen tatsächlich mit dem Land. Das Gesetz räumt denjenigen, die ihr Land nicht selbst bearbeiten wollen oder können, das Recht ein, dieses zu verkaufen und den übrigen, es zu erwerben. Ich glaube, dass dieses Gesetz die Probleme auf dem Land größtenteils lösen wird. (...) (lr)