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Will Paris Budgetregeln der Eurozone aufweichen?

Lisa Louis Paris
10. Mai 2021

Frankreichs Regierung scheint darauf hin zu arbeiten, die Maastricht-Kriterien für die Staaten der Eurozone zu ändern. Doch viele Ökonomen halten das für keine gute Idee.

EU-Gipfel in Brüssel | Emmanuel Macron, französischer Präsident
Bild: Olivier Hoslet/REUTERS

In knapp einem Jahr sind in Frankreich wieder Präsidentschaftswahlen. Da scheint es kein Zufall, dass der Pariser Conseil d'Analyse Economique, ein Expertengremium, das der französischen Regierung nahesteht, gerade jetzt fordert, die Stabilitätsregeln für die Budgets der Staaten der Eurozone aufzuweichen. Auch, weil so manches Wahlkampfversprechen wohl die Ausgaben nach oben treiben würde.

Den sogenannten Maastricht-Regeln zufolge dürfen die Staatsschulden der Euro-Länder 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen. Ihr jährliches Haushaltsdefizit darf höchstens drei Prozent des BIP betragen. Ein trockenes Thema, dass jedoch in Frankreich Symbol ist für eine Art von Europa, die viele ablehnen. Präsident Emmanuel Macron scheint zu hoffen, mit einer solchen Idee in der Wählergunst zu steigen. Doch manche Ökonomen schlagen bei dem Vorschlag die Hände über dem Kopf zusammen.

"Anpassen, nicht abschaffen"

Die drei Autoren des Papers plädieren dafür, die Drei-Prozent-Obergrenze für das jeweilige Jahresdefizit ganz abzuschaffen. Die 60-Prozent-Regel zur Höhe der Gesamtschulden wollen sie der Situation eines jeden Mitgliedsstaates anpassen. Je mehr Spielraum ein Land habe, die Steuern zu erhöhen oder die Ausgaben zu senken, um in Krisenzeiten schnell Liquidität zu schaffen, desto höher solle die Schuldengrenze liegen.

"Wir wollen die Budget-Disziplin in der EU nicht abschaffen - die brauchen wir, um Rettungsaktionen für überschuldete Staaten zu verhindern", sagt Jean Pisani-Ferry, einer der Autoren, zu DW. Er ist Ökonom und lehrt unter anderem an der Universität Science Po in Paris. "Aber es ist nötig, diese Regeln der Realität anzupassen - sie ist einfach eine andere als Anfang der 90er Jahre." 1992 wurden die Maastricht-Kriterien von den EU-Staaten beschlossen.

Jean Pisani-Ferry, Co-Autor der Studie zu den Stabilitätskriterien, will diese den Anforderungen der Zeit anpassenBild: picture alliance/dpa/F.Toulet

"Natürliche" Staatsverschuldung?

Pisani-Ferry verweist vor allem auf die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen des französischen Staates, die in den vergangenen 30 Jahren von um die acht auf zurzeit etwas über null Prozent gefallen sind. "Es kostet den Staat also sehr wenig, Schulden zu haben", erklärt er. "Und wir denken, dass die Zinsen auch so niedrig bleiben werden."

Außerdem spricht der Ökonom von einer gewissen natürlichen Staatsverschuldung, die fundamental sei für ein "nachhaltiges Finanzsystem": "Es gibt eine stete weltweite Nachfrage für Staatsanleihen der Eurozone, was ja dazu führt, dass Staaten immer Schulden haben müssen."

Doch solche Worte lassen Marc Touati verzweifeln. Auch er ist Ökonom, arbeitet als Chef der Pariser Finanzberatung ACDEFI und gilt als liberal. "Wenn wir jetzt die Regeln ändern, öffnen wir die Büchse der Pandora", meint er zu DW. "Wir brauchen unsere finanzielle Glaubwürdigkeit, damit wir uns auch weiterhin zu guten Konditionen Geld leihen können - schließlich sind wir der schlechte Schüler der Eurozone: Fast ein Viertel aller Euro-Staatsanleihen kommen aus Frankreich." Die Staatsverschuldung des Landes liegt inzwischen bei fast 120 Prozent des BIPs.

Geld wird wieder teurer werden

Der Finanzexperte glaubt im Übrigen nicht daran, dass es bei den niedrigen Zinsen bleiben wird. "Sie sind im Moment deswegen so extrem gering, weil die Europäische Zentralbank (EZB) seit dem Jahr 2015 Milliarden Euro auf den Markt gebracht hat durch quantitative Lockerung, also den Aufkauf von Wertpapieren - dadurch ist das Leihen von Geld günstiger", sagt er. "Doch die EZB wird nach der Krise mit dem Gelddrucken aufhören. Und wenn es weniger Geld auf dem Markt gibt, wird es auch wieder teurer werden, sich dieses zu leihen." Es sei wichtig, dass Staaten das im Kopf behielten und jetzt nicht völlig haltlos Schulden ansammelten.

Dem stimmt Touatis Kollege Philippe Crevel, Ökonom und Chef der Denkschmiede Cercle de l'Epargne und ehemaliger Wirtschaftsberater der Konservativen, zu. "Es war in der Wirtschaftsgeschichte noch nie so, dass Zinsen dauerhaft sehr niedrig bleiben - warum sollte das jetzt anders sein", erklärt er gegenüber DW.

Auch widerspricht er Pisani-Ferrys These der natürlichen Staatsverschuldung. "In Frankreich herrscht generell die Meinung, dass man einfach immer weiter Geld ausgeben kann - es ist, als hätten die Leute nicht verstanden, dass man dieses Geld, im Sinne des Wirtschaftskreises, auch wieder 'reinbekommen muss."

Frankreichs starker Staat

So verlasse man sich seit den Zeiten von Napoléon, dessen zweihundertjährigen Todestag Frankreich in der vergangenen Woche beging, auf einen starken Staat, der den öffentlichen Dienst immer weiter ausbaut. "Dabei werden doch die EZB und Deutschland niemals zulassen, dass man die Schulden gar nicht zurückzahlt - das kommt ja letztendlich einem Bankrott gleich und hätte verheerende Auswirkungen auf die Eurozone."

Im Schatten des Korsen: Während die Republik den 200. Todestag Napoléons beging, trat Präsident Macron die Debatte los Bild: Christophe Petit Tesson/AFP

Dennoch sagte Präsident Macron bereits 2019 gegenüber dem britischen Magazin The Economist, dass die Maastricht-Budgetregeln einem "anderen Jahrhundert" entstammten und fügte hinzu, dass Europa mehr Investitionen brauche. Bruno Cautrès, Politologe am Centre de Recherches Politiques der Universität Sciences Po in Paris, wundert es nicht, dass die Debatte jetzt wieder auf den Tisch kommt. "Er will als Europäer wahrgenommen werden, aber als solcher, der Europa verändert", meinte er gegenüber DW.

Maastricht-Kriterien: eine "Leitkritik"

Dabei sei eine Infragestellung der Maastricht-Kriterien sozusagen eine "Leitkritik" in Frankreich. "Vor allem Mitte-Links-Wähler haben diese Regeln schon immer kritisiert, weil sie das Gefühl haben, sie würden durch die Begrenzung der Ausgaben Staaten davon abhalten, Umverteilungspolitik umzusetzen." Cautrès glaubt, dass das Thema im anstehenden Wahlkampf eine große Rolle spielen wird. "Macron wird versuchen, dadurch mehr Wähler von links anzuziehen - selbst, wenn bisher seine Unterstützer eher von Mitte-rechts kommen", sagt er.

Aber Pisani-Ferry entgegnet, das Timing hätte auch mit der Covid-19-Krise zu tun: "Jetzt ist einfach ein guter Moment, um diese Debatte anzustoßen, weil die Staatsverschuldung durch die Krise sowieso stark angestiegen ist und es Sinn macht, die Schuldengrenze zu erhöhen", sagt er. Außerdem könne der Präsident das während Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte 2022 auf die Agenda setzen.

Dennoch gibt er zu, dass es, selbst wenn die Regeln geändert würden, eher unwahrscheinlich ist, dass Frankreich seine 120 Prozent Staatsverschuldung beibehalten darf. "Dafür haben wir einfach nicht genug Spielraum, unsere sowieso schon sehr hohen Steuern weiter zu erhöhen und unsere Ausgaben zu senken. Letzteres würde in Frankreich auf extremen Widerstand stoßen", sagt er.

 

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